Nacht aus Rauch und Nebel
sprang auf. »Sie bedeutet trotzdem, dass wir diesen verfluchten Stein wiederbekommen müssen«, rief er, zerrte an einer der Schubladen seines Schreibtisches und beförderte eine Flasche Schnaps zutage. »Ich wusste doch, dass es falsch war, was du getan hast, Flora! Schon damals habe ich es geahnt.«
»Damals wollten Sie den Stein für sich. Sie wollten ihn benutzen, um alle Schlafenden zu Wandernden zu machen«, erinnerte ich ihn und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich hatte schließlich gute Gründe dafür gehabt, den Stein zu verbergen. »Außerdem –«
Der Großmeister winkte ab. »Und wenn schon, was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Der Weiße Löwe ist für immer verloren! Ohne ihn haben wir keine Chance, das Nichts aufzuhalten.« Er trank einen großen Schluck.
»Fluvius«, ermahnte seine Schwester ihn und musterte mich mit einem so eindringlichen Blick, als ahnte sie, was ich bisher allen verschwiegen hatte. »Jetzt lasst uns doch erst einmal in Ruhe darüber nachdenken. Wir haben den Stein nicht mehr. Das ist natürlich ein Problem. Aber was wäre, wenn wir ihn hätten? Was müssten wir dann damit tun?«
Fluvius Grindeaut starrte auf die klare Flüssigkeit in der Flasche zwischen seinen Händen. »Nun, wir müssten wohl versuchen, das Experiment des Kanzlers umzukehren.«
»Wie?«, flüsterte ich. Meine Mutter schlang die Arme um ihren Oberkörper und verschränkte sie vor ihrer Brust. Dort, wo ihr mechanisches Herz schlug.
Der Großmeister runzelte die Stirn, sah erst mich an, dann seine Schwester und schließlich meine Mutter, bevor er sich räusperte und auf die Tür deutete. »Folgt mir.«
Das alchimistische Labor des Großmeisters unter den Katakomben Notre-Dames war noch genauso verwinkelt und vollgestellt wie eh und je. Der gläserne Wald klirrte und blubberte wie bei meinem ersten Besuch hier. Nur das riesige Loch in der Decke der Grotte war neu, durch das die Nebelkönigin sich gefressen hatte. Das schrottreife Wrack des Schiffes thronte auf einer kleinen Anhöhe inmitten der Wipfel aus Apparaturen und Zahnrädern. Kaum zu glauben, dass wir es darin lebend zurückgeschafft hatten. Doch dieses Mal war es etwas anderes als das Schiff, was uns hierherzog.
Fluvius Grindeaut führte uns auf verschlungenen Pfaden, die nur er zu erkennen schien, zwischen halb fertigen Erfindungen und Baumstämmen, die mit merkwürdigen Flüssigkeiten gefüllt waren, hindurch bis zu einem Tunnel, der von der Hauptgrotte in eine kleinere Höhle führte. Auch hier bestand die gesamte Einrichtung aus funkelndem Glas, das im Licht einer Traube von Magmakugeln unter der Decke schimmerte. Doch weder tröpfelte noch köchelte es irgendwo in dieser Höhle, stattdessen bedeckten gläserne Borde die Felswände bis fast hinauf zu den Magmakugeln. Und darauf standen Bücher. Ich traute meinen Augen kaum, doch es waren Bücher aus Glas!
Der Großmeister stieg schwankend eine der durchsichtigen Leitern hinauf, die viel zu filigran wirkten, um den Körper eines Mannes zu tragen, und zog gleich einen ganzen Stapel Bücher heraus, den er auf dem Unterarm balancierte und schließlich auf den durchsichtigen Schreibtisch im Zentrum der Höhle legte.
»All die Jahre habe ich über jedes meiner Experimente Protokoll geführt«, erklärte er und schlug das oberste Werk auf. Zum Vorschein kamen hauchzarte Seiten, bedeckt mit schnörkeliger Schrift. »Natürlich habe ich nie einen ähnlichen Versuch unternommen wie der Kanzler. Aber vielleicht finde ich doch einen Hinweis darauf, wie es gehen könnte.«
Madame Mafalda kniff neben mir die Augen zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. »Na hoffentlich«, murmelte sie.
Leider wurde schon sehr bald klar, dass uns Fluvius Grindeauts Alchemistenwissen nicht weiterbringen würde. Stunde um Stunde sahen wir ihm dabei zu, wie er in seinen alten Aufzeichnungen blätterte, den Kopf schüttelte, Whisky auf seinen Bart kleckerte und dabei immer ungehaltener wurde (vor allem, nachdem ich versucht hatte, ihm den Alkohol wegzunehmen). Nach anderthalb Nächten war es schließlich meine Mutter, die die Nerven verlor. In der einen Minute war sie noch friedlich an den Regalen entlang auf und ab marschiert, in der nächsten entriss sie dem Großmeister das Buch, in dem er gerade las, und schlug es zu. Die Seiten in seinem Innern klirrten aneinander und eine von ihnen ritzte meiner Mutter in den Finger, sodass ihr metallisch glänzendes Blut auf den Höhlenboden tropfte. Doch das
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