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Nacht aus Rauch und Nebel

Nacht aus Rauch und Nebel

Titel: Nacht aus Rauch und Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ma2
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paar Wochen vom fehlgeschlagenen Experiment des Kanzlers und der Entstehung des Nichts und des Steins erzählt«, sagte die Dame.
    »Verstehe.« Fluvius Grindeaut runzelte die buschigen Brauen. »Nun, die Idee ist vielleicht gar nicht so schlecht. Doch bevor wir es tun, denken Sie nicht, die Prinzessin sollte endlich erfahren –«
    Die Dame schüttelte den Kopf. »Nein, nein! Probieren wir doch erst einmal, ob es überhaupt funktioniert.«
    »Was soll ich erfahren?«, fragte ich, verwirrt und auch ein wenig ärgerlich darüber, dass es anscheinend schon wieder etwas gab, was man vor mir geheim hielt.
    Der Großmeister reichte das Pergament an den sabbernden Propheten auf dem Fußboden weiter. Dieser brauchte ein bisschen, bis er sich aus seiner Lethargie und der Betrachtung der Teppichfransen lösen konnte. Sein Haar hing ihm verfilzt in den Augen, er war ungewaschen und in Lumpen gehüllt. Aber die Behutsamkeit, mit der seine krallenartigen Fingernägel über den Fetzen und die schnörkelige Schrift darauf strichen, verlieh seinem Anblick den Abglanz des früheren Gelehrten. Sein Blick wurde ein wenig klarer, menschlicher. Zunächst betrachtete er mich, wie er es immer tat, ein wenig erstaunt und wissend zugleich. »Mädchen«, murmelte er und: »Stern … Herz … Welt.«
    Das kannten wir schon von ihm. Doch dann legte er den Kopf in den Nacken und das Pergament auf sein Gesicht, wo der Speichel, der noch immer sein Kinn benetzte, begann, es zu durchweichen, während er die Worte, die darauf standen, stammelte: »Und wenn nicht das Mädchen den Stern bewahrt, das Herz zurückbringt, so wird die Welt vergehen durch ihre Schuld, vergehen im Reich derer, die nicht mehr sind.« Er musste die Zeilen aus den Tiefen seines Gedächtnisses heraufbeschworen haben, denn ich war mir fast sicher, dass er das Lesen in den Jahrzehnten der Einsamkeit genauso verlernt hatte wie seine Umgangsformen. Für ihn waren es vermutlich nichts als bedeutungslose Laute, die er in seiner Kehle formte.
    Dreimal wiederholte er den Vers, während der Großmeister jede seiner Regungen genauestens protokollierte, dann ließ er den Fetzen sinken und blinzelte in unsere Richtung. »Mädchen!«, wiederholte er und deutete auf mich. »Ein Stern und ein Mädchen, deren Seelen verbunden …« Dann ein ängstliches »Geister?«
    »Nein. Hier nicht«, sagte die Dame und trat nun ebenfalls näher. »Wir sind in Sicherheit.«
    Natürlich verstand Desiderius sie nicht. Dennoch krabbelte er in ihre Richtung, schnupperte in der Luft, als nähme er eine Witterung auf, und stieß schließlich ein triumphierendes Heulen aus, das mich zurückweichen ließ.
    Die Dame hingegen blieb vollkommen regungslos, als der alte Mann zu ihr kroch und mit den faltigen Händen nach ihren Knöcheln griff. Sie blinzelte nicht einmal hinter ihrer Maske, als Desiderius begann, in ihren Rocksaum zu rufen: »Noch ist Leben darin … und die Stadt in den Abgrund reißt … ein kaltes Herz, das vom Himmel fiel … das schon viel zu lange andauert.«
    Ich hielt den Atem an. Das war ein neuer Teil der Prophezeiung! Es klappte tatsächlich! Der Füllfederhalter des Großmeisters kratzte über die Seiten, so hastig notierte er die Worte seines Freundes.
    »Noch ist Leben darin!«, rief der Prophet und stieß sich vom Boden ab. »Noch ist Leben darin!«, kreischte er und erklomm die Schultern der Dame wie ein Affe, der einen Baum hinaufkletterte. Seine scharfen Fingernägel kratzten über den Hals der Dame und hinterließen metallisch schimmernde Furchen in der hellen Haut. Dann riss er plötzlich an der Maske und schleuderte sie quer durch den Raum. Der weiße Gips segelte über den Kopf des Großmeisters und landete vor meinen Füßen.
    »Von der Mutter verloren, der Tochter anvertraut«, zischte Desiderius und schwang sich zum Kronleuchter unter der Decke empor, während ich von der Maske auf dem Teppich in das Gesicht der Frau starrte, die sie getragen hatte.
    Keuchend und nackt stand sie da. Beim Anblick ihrer Züge wurde mir schwindelig. Ich kannte diese Nase, die Wangen, diese Brauen. Ich kannte sie nur zu gut, wenn ich sie auch seit meinem siebten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte.
    Vor mir stand meine Mutter.
    Meine Mutter, die mit drei hastigen Schritten bei mir war, ihre Maske aufhob und an ihre Brust drückte. Meine Mutter, die noch genauso aussah wie an jenem Tag, als sie meinen Vater und mich verlassen hatte.
    Mein Mund klappte auf und wieder zu, doch kein Ton kam über meine

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