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Nacht aus Rauch und Nebel

Nacht aus Rauch und Nebel

Titel: Nacht aus Rauch und Nebel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ma2
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Lippen. Der Großmeister trat neben mich und legte seine Hand auf meine Schulter, doch ich schüttelte sie ab.
    »Ich bin deine Mutter«, sagte die Dame und ich nickte abgehackt. Inzwischen zitterte ich am ganzen Körper. Dabei hatte ich mir ein Wiedersehen mit ihr so oft ausgemalt. In meiner Fantasie war ich ihr schon unzählige Male begegnet, auf dem Heimweg von der Schule, an der Supermarktkasse, auf Klassenfahrt oder im Urlaub. Fast meine ganze Kindheit hindurch hatte ich mir eingeredet, dass es einen plausiblen Grund gab, warum meine Mutter verschwunden war, dass sie es nicht freiwillig getan hatte und mich genauso vermisste wie ich sie.
    Doch das war eine Lüge gewesen. Meine Mutter war nun schon seit Monaten in meiner unmittelbaren Nähe gewesen. Meine Mutter schloss mich nicht weinend in die Arme, stattdessen schob sie die Maske zurück in ihr Gesicht und rieb sich unsicher über die Oberarme. Ich blinzelte die Tränen fort, die mir in die Augen schossen, und zwang mich dazu, sie anzusehen.
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich tonlos.
    »Kannst du dir das nicht denken?«, fragte die Dame. »Was meinst du, warum kannst du den Weißen Löwen spüren?«
    Ich seufzte. »Weil er in Wahrheit das Herz meiner Mutter ist.«
    Die Dame nickte. »Er stürzte in der Sekunde deiner Geburt vom Himmel, weil es wohl das ist, was eine Mutter ihrem Kind mitgeben sollte: ihre Liebe!«
    Die Stimme der Dame klang brüchig, genau wie meine, als ich weitersprach: »Aber warum … versteckst du dich hier vor Papa und mir? Warum darf niemand wissen, wer du bist? Warum hast du uns verlassen?«
    Die Dame griff nach der Sessellehne neben sich und atmete ein paarmal tief durch. »Alles ist miteinander verbunden, Flora«, begann sie schließlich. »Jeder meiner unsterblichen Atemzüge kostet die Schattenwelt unendlich viel Energie. Deshalb glaube ich schon seit einigen Jahren, dass ich diejenige bin, die das Nichts anzieht. Zuerst war es nur eine Vermutung, doch bei der letzten großen Nichtsbewegung war ich mir schließlich sicher und beschloss, dass es besser sein würde, mich hinter dicken Mauern zu verbergen, die mich zumindest ein wenig vor dem Nichts abschirmen, und keinen Schritt mehr als nötig vor die Türen dieser Kathedrale zu setzen.« Tränen glitzerten in ihren Augen, als sie weitersprach. »Ich bin diejenige, die das Nichts auf Eisenheim zutreibt. Das Energievakuum, das ich allein durch meine Existenz erzeuge, zieht es an wie ein Magnet. Aber ich kann nicht sterben. Ich kann nichts tun außer versuchen, das Unheil einzudämmen, indem ich mich ruhig verhalte. Deshalb konnte ich nicht bei euch bleiben, weder in dieser noch in der realen Welt. Nicht mit dieser Schuld, die auf meinen Schultern lastet. Ich habe bereits so viele Seelen auf dem Gewissen.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Aber nicht du hast das Nichts in diese Welt gebracht. Es war der Eiserne Kanzler. Er trägt die Verantwortung für das alles.«
    Ohne es zu bemerken, hatte ich mich auf meine Mutter zubewegt und ihre Hand ergriffen, die nun kühl in meiner lag und ein wenig zitterte.
    »Und wenn nicht das Mädchen den Stern bewahrt, das Herz zurückbringt, so wird die Welt vergehen durch ihre Schuld, vergehen im Reich derer, die nicht mehr sind«, murmelte sie. »Damit bist nicht du gemeint, Flora, sondern ich. Ich bin diejenige, die dafür sorgt, dass das Nichts uns alle früher oder später verschlingen wird.«
    »Nein«, flüsterte ich und tastete nach ihrer Hand. Meine Mutter zog sie nicht weg. »Das werden wir nicht zulassen«, sagte ich.
    »Bitte verrate deinem Vater nichts, ja? Er wird nicht verstehen, dass ich euch auch in der realen Welt im Stich lassen musste, weil so viel Schuld auf mir lastet und ich ihm nicht mehr in die Augen sehen konnte«, erklärte sie heiser, während Fluvius Grindeaut noch immer eifrig in seinem Notizbuch herumkritzelte.
    »Einverstanden«, sagte ich, als der Boden unter unseren Füßen sich plötzlich bewegte.
    Die Kathedrale erzitterte in ihren Grundfesten.
     
    So rasch wir konnten, stürzten wir ins Freie. Der Großmeister trug den verrückten Gelehrten huckepack, während meine Mutter und ich vorauseilten und die Türen für die beiden aufhielten. Als wir den Platz vor der Kathedrale erreichten, hatten sich dort bereits einige Dienstboten und diejenigen Kämpfer versammelt, deren Erkundungstouren wie meine beendet waren. Alle drängten sie sich vor dem Portal zusammen und starrten angstvoll auf die sich bauschenden Massen

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