Nacht aus Rauch und Nebel
schien sie überhaupt nicht zu interessieren. »Das hier hat keinen Sinn«, rief sie. »Sie haben doch niemals in Richtung Unsterblichkeit geforscht.«
»Nein, aber …« Der Großmeister tastete nach der Flasche in der Tasche seines Gewandes. Sein Blick ging an meiner Mutter vorbei ins Leere, auch als diese ihn packte und zu schütteln begann.
»Warum sagen Sie uns nicht die Wahrheit? Sie haben keine Ahnung, wie wir das Experiment rückgängig machen können, oder?«
»Mama«, versuchte ich sie zu beruhigen.
Madame Mafalda legte ihr eine fleischige Hand auf den Arm, doch meine Mutter riss sich los. »Oder?«, wiederholte sie.
Der Großmeister blinzelte so langsam, als bereite es ihm Mühe, die Augen offen zu halten. »Nein«, krächzte er schließlich und senkte den Blick. »Ich weiß es tatsächlich nicht.«
Meine Mutter ließ ihn los. Wie immer verbarg die Maske ihr Gesicht hinter leblosen Zügen aus Gips, doch ihre Schultern bebten. »Das hatte ich befürchtet. Es … es wird zu nichts führen, wenn wir noch länger hier unten bleiben. Wir vergeuden nur unsere Zeit. Das Nichts könnte jeden Augenblick wieder zuschlagen«, erklärte sie mit brüchiger Stimme. »Ich spüre es, ich werde bereits wieder schwächer und brauche neue Energie. Schon bald werden wieder Seelen sterben. Wegen mir. Durch meine Schuld! Das kann ich nicht zulassen.« Sie stieß ein Wimmern aus. »Ihr solltet einfach das verdammte mechanische Herz aus meiner Brust holen. Vielleicht hat dann alles ein Ende!«
»Nein!« Mit einem Satz war ich bei ihr. Sie wehrte sich, aber ich schlang dennoch meine Arme um sie. »Was redest du da für einen Blödsinn? Wir werden dich nicht umbringen.«
»Warum nicht?«, fragte meine Mutter. »Es stimmt, mein Leben dauert schon viel zu lange an. Könnte nicht mein Tod die Lösung sein?«
»Natürlich nicht«, rief ich. Doch zu meiner Überraschung protestierten weder der Großmeister noch seine Schwester, stattdessen tauschten die beiden einen merkwürdigen Blick, der kalte Wut in mir aufsteigen ließ. »Das kann nicht wahr sein! Sie können doch nicht ernsthaft in Erwägung ziehen …« Ich schnaubte.
»Die Prophezeiung spricht nun mal davon, dass sie es ist, die das Nichts anzieht und schon zu lange lebt«, warf der Großmeister ein. Die Runzeln um seine Augen herum glätteten sich ein wenig, als er mich ansah. »Der Gedanke ist schrecklich, Flora. Natürlich. Aber vielleicht … Ehe wir die komplette Schattenwelt untergehen lassen, sollten wir da nicht jeder noch so tragischen –«
»Was ist mit dem Stein? Was ist, wenn ihr Tod allein überhaupt nichts bringen würde? Wollen Sie das etwa riskieren? Und abgesehen davon, wir können doch niemanden ermorden! « Der Gedanke, meine Mutter, die so viele Jahre nicht bei mir gewesen war, gleich wieder zu verlieren, schnürte mir die Kehle zu. Mein Vater wusste doch nicht einmal, dass sie lebte! Sollte unsere Familie etwa zerstört werden, noch bevor sie überhaupt wieder zusammengefunden hatte? Sollte ein Mensch getötet werden, obwohl noch nicht einmal sicher war, dass dies das Nichts aufhalten würde? Wie konnten Madame Mafalda und Fluvius Grindeaut daran überhaupt nur denken?
»Es gibt keinen anderen Weg«, wisperte meine Mutter an meiner Schulter, doch ich schüttelte entschieden den Kopf.
»Es muss einen anderen Weg geben«, sagte ich. Niemals würde ich zulassen, dass sie starb. Niemals! Ich presste die Kiefer aufeinander. »Und ich werde ihn finden, das schwöre ich euch«, sagte ich laut. »Ich werde ihn finden, und wenn ich dafür den Eisernen Kanzler höchstpersönlich –«
Ich stockte, denn mir war soeben klar geworden, dass ich genau das tun musste. Alexander von Berg war die einzige Seele in ganz Eisenheim, die mir helfen konnte. Derjenige, der mich am meisten hasste, mein größter Feind, der alles verloren hatte, was ihm jemals wichtig gewesen war, und noch immer nichts mehr begehrte als den Weißen Löwen. Nun brauchte ich ausgerechnet seine Hilfe! Doch ich war entschlossen, sie auch zu bekommen.
»Gebt mir drei Nächte.«
Noch in derselben Nacht suchte ich die Villa am anderen Ende des Palastgartens auf. Wie bei meinem letzten Besuch saß der Eiserne Kanzler an seinem Schreibtisch im Wintergarten und schrieb an seinen Memoiren. Doch seine tadellose Kleidung war einem seidenen Morgenrock gewichen, das Haar lag in unordentlichen Wellen auf seinen Schultern und die Feder kratzte nur langsam über das Papier. Anscheinend schrieb er
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