Nacht aus Rauch und Nebel
doch nicht darauf anlegen –«, wollte ich mich versichern.
Doch in diesem Moment seufzte der Kanzler und deutete auf das Wandbord, auf dem er seine nun wieder sauberen Kaffeetassen aufgereiht hatte. »Tja, das war wohl umsonst.«
»Was?«, fragte ich, als plötzlich die Erde unter unseren Füßen erbebte. Wir schafften es gerade noch, vor dem herunterstürzenden Porzellan in Deckung zu gehen. Es zerschellte auf dem Fliesenboden in unzählige Scherben.
22
GEGEN DAS NICHTS
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, brummte mir der Schädel. Sämtliche meiner Glieder schmerzten und die Welt flimmerte vor meinen Augen. Was das Nichts in dieser Nacht angerichtet hatte, stellte alle vorherigen Katastrophen in den Schatten. Das Backand war vollständig zerstört worden, ebenso wie der Dunsterrost und der Stadtteil Schlotbaron mit seinen Fabriken und Bergwerken. An den Abbau dunkler Materie war nicht mehr zu denken. Auch vom Krawoster Grund existierten nur noch einige wenige Baracken, Mylchen war halbiert worden und Krummsen … Das Nichts hatte sich einen weiteren Teil der Kathedrale einverleibt und sie damit endgültig unbewohnbar gemacht. Wie viele Seelen ihm dieses Mal zum Opfer gefallen waren, konnte niemand sagen, doch es mussten Tausende sein. Wer überlebt hatte, drängte sich nun in den Notunterkünften in Graldingen und auf dem Grind. Im Grunde waren der Stadtteil östlich der Rue Monsieur le Coq und der Palasthügel alles, was noch von Eisenheim übrig geblieben war. Wenn ich noch etwas von der Schattenwelt retten wollte, würde ich mich beeilen müssen. Noch gab es die Ruinen der Pyramiden und hoffentlich auch den lackschwarzen See darunter. Aber wie lange wäre das wohl noch der Fall?
Ich wusste es nicht. Nur eines war mir mittlerweile klar geworden: Ich durfte keine Zeit mehr verlieren. In Eisenheim regierte die Panik und auch in Essen machten uns die Wandernden tagsüber die Hölle heiß. Mein Vater hing, wenn er wach war, ununterbrochen am Telefon. Ich war schon seit einer Woche nicht mehr in der Schule gewesen. Stattdessen lag auf meinem Nachttisch eine Packung Schlaftabletten. In den letzten Tagen hatte ich das Bett kaum verlassen, sondern selbst für ausreichend Schlaf gesorgt, um genügend Zeit in Eisenheim verbringen zu können.
Doch heute hatte ich etwas in der realen Welt zu erledigen. Ich verließ meinen Körper, und während meine reale Gestalt weiterhin im Bett lag und die Decke anstarrte, trat ich als flackernder Schatten ans Fenster und durch das Glas hinaus in die kühle Morgenluft. So schnell ich konnte, flog ich über die Dächer Steeles hinweg. Noch immer saß mir der Schrecken im Nacken. Nicht nur darüber, wie verheerend das Nichts Eisenheim heute Nacht getroffen, sondern vor allem über die Art und Weise, wie es uns angegriffen hatte. Es war nämlich nicht einfach nur weiter auf die Ränder der Stadt zugekrochen, nein! Dieses Mal war es noch tückischer vorgegangen. Denn es war von unten gekommen. Ohne Vorwarnung waren ganze Straßenzüge in der Erde versunken, weggebrochen! Menschen, die sich sicher gefühlt hatten, weil das Nichts noch meilenweit entfernt gewesen war, waren innerhalb von Sekunden in die Tiefe gestürzt. Unbemerkt musste das Ungeheuer aus fehlender Materie Fundamente aufgelöst und ganze Stadtteile unterhöhlt haben.
Nach wenigen Sekunden erreichte ich das Haus mit der klogrünen Fassade. Durch die Dachpfannen hindurch schwebte ich in Marians Wohnung. Ich fand ihn im Wohnzimmer, wo er auf der Couch lag und sich auf dem Notebook auf seinem Schoß YouTube-Videos ansah.
»Tierbabys?«, fragte ich.
Marian sah auf. »Eishockeyfouls«, antwortete er. Die Zeit, die sein Körper bewusstlos im Krankenhaus verbracht hatte, war ihm noch anzusehen. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, seine Wangen wirkten hohler und noch ein wenig kantiger als sonst und die Haut über seinen Jochbeinen sah ein wenig wächsern aus. Zwar hatte man ihn vor ein paar Tagen entlassen, doch er war noch schwach und für die nächsten Wochen krankgeschrieben worden. Der Arzt hatte ihm strikte Bettruhe verordnet. Auch er schlief, so viel er konnte, und half uns dabei, die Seelen in Eisenheim zu evakuieren. Doch tagsüber brauchte sein Körper noch immer viel Erholung. Ich zweifelte daran, dass er in der Lage war, mir bei meinem Vorhaben zu helfen. Dennoch war er der einzige Mensch auf der Welt, den ich dabeihaben wollte. Denn ich wusste, ohne ihn würde ich den Tag und die kommende Nacht nicht
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