Nacht aus Rauch und Nebel
etwas.
Marian betrachtete mich mit gerunzelter Stirn. »Ist wirklich alles okay?«
Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, herunter. Wenn ich schon ohne Marian herausfinden musste, was in Eisenheim vor sich ging und ob der Stein in Gefahr war, würde ich dazu in erster Linie einen klaren Kopf benötigen. Es war nicht gut, mich mit Gedanken an ein »Was wäre, wenn« zu foltern, die in mir aufwallten, wann immer ein gewisser weißblonder Schopf in mein Blickfeld trat. »Ich denke, es wäre besser, wenn wir uns vorerst überhaupt nicht mehr sehen«, sagte ich deshalb mit brüchiger Stimme und zerknüllte das Serviettenschiffchen zu einem Ball.
Wenn meine Worte Marian überrascht oder verletzt hatten, so ließ er es sich nicht anmerken. Er blinzelte nicht einmal, sondern nickte nur sehr langsam, presste die Kiefer aufeinander, betrachtete das zerstörte Schiffchen auf der Tischplatte zwischen uns. »Einverstanden«, sagte er schließlich und dieses einzelne Wort schnitt tief in mein Herz und besiegelte etwas. »Wenn es das ist, was du willst.«
Ich nickte, während Christabel mit zwei Tabletts, auf denen sich chinesisches Essen türmte, unseren Platz erreichte. Sie schob ihre Beute zwischen uns. »Na, wer will eine Frühlingsrolle?«
Nachdem wir Marian wieder bei sich zu Hause abgesetzt hatten, betraten Christabel und ich unsere Wohnung am frühen Nachmittag. Mein Vater saß noch in genau derselben Haltung an seinem Schreibtisch wie am Morgen, im Pyjama mit ungekämmtem Haar, den Kopf in die Hände gestützt. Er schlief tief und fest.
»Ein Schlafmittel, nehme ich an?« Ich deutete auf das halb volle Wasserglas und die Tablettenpackung neben seinem Ellbogen.
Christabel nickte. »Vermutlich wollte er die Dinge lieber vor Ort klären. Ich werde mal nachsehen, ob er Hilfe braucht.« Sie drückte sich ebenfalls eine Tablette aus dem Blisterstreifen und ließ sich auf das Klappbett fallen, das wir noch immer nicht weggeräumt hatten, obwohl Marian bereits vor Wochen ausgezogen war. Im nächsten Moment fielen ihr auch schon die Augen zu und ich blieb allein zurück. Endlich.
Die Tränen kamen, kaum dass meine Zimmertür hinter mir ins Schloss gefallen war. Ich warf mich auf mein Bett und konzentrierte mich darauf, wie die salzigen Tropfen meine Wangen hinunter bis zu meinen Ohrläppchen rannen. Wir liebten uns und dennoch konnten wir nicht zusammen sein. Anscheinend reichte es nicht aus. Dabei lernte man doch in jedem Disneyfilm, dass die Liebe stärker war als alles andere. Eine Lüge? Ein Gesetz, das nicht gelten konnte, wenn man, wie wir, die Schattenwelt am Hals hatte? Mein Magen zog sich zusammen. Oder waren unsere Gefühle füreinander schlicht nicht stark genug? Ich schloss die brennenden Augen und weigerte mich, weiter darüber nachzudenken.
Irgendwann rollte ich mich zur Seite und starrte die kleine Kommode an, in der ich meine Socken aufbewahrte. Mein Blick verfing sich an den bronzefarbenen Schubladenknäufen, ohne dass ich sie wirklich ansah. Ein dröhnender Kopfschmerz breitete sich hinter meiner Stirn aus, doch ich stand nicht auf, um ein Glas Wasser zu trinken oder eine Paracetamol aus meiner Handtasche zu kramen, sondern lag reglos da, lauschte meinem Herzschlag und dem Pochen in meinem Kopf. Die Zeit tröpfelte vor sich hin, es begann zu dämmern.
»Flora? Kommst du mal?«, rief mein Vater aus dem Wohnzimmer.
Ich zuckte zusammen. Meine Glieder fühlten sich steif an, als ich mir hastig mit einem Taschentuch über das Gesicht wischte und die Nase schnäuzte. Ich räusperte mich. »Was ist denn?«
»Dein Vater möchte etwas mit dir besprechen«, schaltete sich Christabel ein. »Es ist wichtig.«
Ich seufzte und schlurfte zu den beiden hinüber.
Mein Vater saß in seinem Ohrensessel und lächelte mir entgegen. Christabel hatte die Beine auf die Couch gelegt und strickte. Auch sie wirkte vergnügt. Hatten die beiden es etwa geschafft, innerhalb von anderthalb Stunden alle Probleme der Schattenwelt zu lösen? Das Nichts? Den Ascheregen? Das Erdbeben?
Ich runzelte die Stirn. »Was gibt’s?«
»Ich habe den Tag genutzt, um in Ruhe nachzudenken, und ich glaube, ich weiß nun, was wir unternehmen können.« Das Lächeln meines Vaters wurde breiter. »Wir wissen nicht, warum all diese Dinge in den letzten Nächten geschehen sind. Richtig?«
Ich nickte.
»Und bis unsere Wissenschaftler es herausgefunden haben, wird vermutlich noch einige Zeit vergehen, stimmt’s? Das
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