Nacht aus Rauch und Nebel
ja auch ein andermal machen«, erklärte ich deshalb.
Mein Vater wiegte den Kopf hin und her. »Die Asche und all das … Ich … muss darüber nachdenken, was ich dagegen unternehme …« Er überlegte. »Aber Christabel wird sich um dich kümmern.«
Ich verdrehte die Augen. »Das ist echt nicht nötig. Wir verschieben es einfach, hm?«
Eine knappe Stunde später saß ich neben Christabel in unserem Kombi und tuckerte dem ödesten Samstagvormittag der Weltgeschichte entgegen. Anscheinend war es egal, dass mein Vater gerade einen Nervenzusammenbruch erlitt und Eisenheim von einer Naturkatastrophe nach der anderen heimgesucht wurde. Wir betrieben Sightseeing. Sightseeing in Oberhausen!
Mit verschränkten Armen lehnte ich mich in den Beifahrersitz. Mir steckte das Erdbeben ebenfalls noch in den Knochen, auch wenn ich meine Schürfwunden in der realen Welt natürlich nicht spürte. Doch meine Seele war aufgewühlt. Irgendetwas ging in der Schattenwelt vor sich. Und die Tatsache, dass ich diesen merkwürdigen Schmerz verspürte, wann immer der Ascheregen einsetzte, machte mich nervös. Hatte der Weiße Löwe etwas damit zu tun?
Ich hätte den Tag viel lieber dazu genutzt, meine Gedanken zu ordnen. Oder um vielleicht mal Wiebke zu besuchen und nach ihr zu sehen. Sie war meine beste Freundin und sie fehlte mir, immerhin hatten die Windpocken (die einzige Kinderkrankheit, die auch an mir vorübergegangen war) sie nun schon über eine Woche außer Gefecht gesetzt. Mittlerweile war sie nicht mehr ansteckend, sodass ich mal wieder hätte vorbeischauen können. Doch heute würde daraus wohl nichts werden.
Christabel, die mit der Gangschaltung auch nach all den Jahren nicht klarkam, kutschierte mich mit röhrendem Motor durch Essen und hielt, kaum dass wir losgefahren waren, vor einem Haus mit klogrüner Fassade. Davor wartete eine bleiche Gestalt.
»Hi!« Marian quetschte sich auf die Rückbank.
»Morgen.« Ich seufzte. Mein Vater war also so besorgt um mich, dass ein Leibwächter für unseren Ausflug nicht ausreichte. Ich hatte es ja geahnt.
Christabel lenkte den Kombi auf die A40, die an manchen Stellen von Essen so nah an den Häusern vorbeiführte, dass man die verfrühte Weihnachtsdekoration auf einzelnen Balkonen erkennen konnte. Im hintersten Winkel von Mülheim fuhren wir ab, um kurz darauf auf der Bundesstraße das Zentrum von Oberhausen zu durchqueren. Christabel parkte am Straßenrand mitten in einer Wohnsiedlung. Alles in allem hatte die Fahrt nicht einmal eine halbe Stunde gedauert. Dank des Geplärres des Schlagersenders im Radio, den Christabel so gern hörte, gepaart mit dem Schweigen auf der Rückbank war sie mir jedoch wie eine Ewigkeit vorgekommen.
Ich sprang auf die Straße, kaum dass unsere Haushälterin den Wagen in die Parklücke manövriert hatte. »Okay. Wo sind wir?«, fragte ich gedehnt, als Marian und Christabel auch ausgestiegen waren. »Was kann ich von diesen«, ich drehte mich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse, » Vorgärten lernen?«
Christabel, die einen geblümten Kittel unter ihrem Mantel trug, der so kurz unter dem Knie endete, dass die Gummibänder ihrer Stützstrümpfe darunter hervorblitzten, zündete sich eine Zigarette an. »Oh, eine ganze Menge, Engelchen«, sagte sie zwischen zwei Zügen und führte uns tiefer in die Siedlung hinein.
Die Häuser waren alt und bestanden aus dunklem Backstein mit gemauerten Bögen über den Türen. In den Gärten duckten sich dazu passende Schuppen. Auf den Fensterbänken standen Kästen mit Kräutern und auf den Wiesen davor Gartenzwerge und niedrige Hecken. Es war … idyllisch. Eine typische Ruhrgebietssiedlung des 19. Jahrhunderts, schätzte ich. Hier und da lugte sogar noch ein ehemaliger Taubenschlag hervor.
»Man nennt diesen Stadtteil Eisenheim«, erklärte Christabel und sah mich bedeutungsvoll an.
Ich hob eine Augenbraue. »Was für ein Zufall.«
»Ganz und gar nicht. Diese Siedlung wurde 1846 auf Initiative von Wilhelm Fueg gegründet, dem damaligen Geschäftsführer der Hüttengewerkschaft und Handlung Jacobi, Haniel und Huyssen. Wilhelm Fueg war selbstverständlich ein Wandernder.«
Etwa eine Stunde lang führte Christabel uns durch das Wohngebiet, sprach über Industrialisierung, Bergbau und verschiedene Verfahren der Stahlgewinnung, schweißnahtlose Reifen und Kanonen und natürlich, wie das alles mit der Schattenwelt zusammenhing. Denn anscheinend hatten nicht wenige alteingesessene Ruhrgebietsfamilien sich
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