Nacht aus Rauch und Nebel
den Mauervorsprung trat, war da nur eine alte Holztür, von der die Farbe abblätterte.
Ich sah mich um, doch der Kaiser-Otto-Platz, den ich gerade überquert hatte, lag vollkommen verlassen da. Die Geschäfte, die ihn umringten, hatten bereits vor Stunden geschlossen. Es war Samstag, da wurden hier schon mittags die Bürgersteige hochgeklappt. Selbst in den Cafés herrschte Flaute. Nur im Schaufenster einer der vielen Apotheken regte sich eine Werbetafel, die von einem kleinen Motor betrieben auf und ab fuhr, um die Aufmerksamkeit des geneigten Rentners auf ein Prostatamittel zu lenken.
Einen Moment lang lauschte ich noch auf das ferne Rauschen des Verkehrs, dann hastete ich weiter, denn ich wollte nicht die Bahn verpassen. Vermutlich hatte ich mir meinen Verfolger sowieso nur eingebildet. Bestimmt sogar. Irgendein Schatten hatte mich aufgeschreckt, weil alles, was mit Schatten zu tun hatte, mich nun mal hellhörig werden ließ, seit ich Eisenheim kannte. Das war ja auch nur logisch, oder nicht? Bloß wurde ich wohl langsam paranoid.
Ich schüttelte die seltsamen Gedanken ab und nahm die S-Bahn zum Hauptbahnhof, wo ich in die U-Bahn umstieg. Das mulmige Gefühl blieb, doch ich zwang mich, ihm keine weitere Beachtung zu schenken. Beinahe pünktlich erreichte ich die Neubausiedlung, in der die Zwillinge wohnten. Dem Krieger, der auf der anderen Straßenseite Wache hielt, nickte ich kurz zu, dann klingelte ich.
»Hallo, Flora! Ich warne dich schon mal vor: Ich sehe grässlich aus«, ertönte Wiebkes Stimme aus der Türsprechanlage.
»Hoffentlich erkenne ich dich noch«, sagte ich und trat ein.
Wiebke trug einen Anzug aus weichem Fleecestoff, der über und über mit rosaroten Katzen bedruckt war. Sie sah blass aus, ein wenig ausgemergelt. Außerdem war ihre Haut übersät von kleinen Krusten, das Gesicht, die Arme, der Hals … Verlegen versteckte sie die Hände hinter dem Rücken und sah mich über den Rand ihrer Brille an. »Nicht lachen, ja?«
»Quatsch«, sagte ich, grinste aber doch ein bisschen. »Du siehst sogar richtig süß aus, Pünktchen.«
»Es dauert noch ein paar Tage, bis sie abfallen. Laut Arzt bin ich im Grunde wieder gesund. Aber so kann ich mich ja nicht auf die Straße wagen.«
»Ach, warum denn nicht?«
»Irre komisch, Flora. Zum Ballett müsste ich nächste Woche aber auf jeden Fall mal wieder, sonst kann ich mir meine Rolle im Nussknacker abschminken. Hoffentlich sehe ich dann nicht mehr wie das Sams aus.«
»Aber das wolltest du doch immer.« Mein Grinsen wurde breiter. Unsere Grundschullehrerin hatte uns früher die Geschichten rund um das Sams vorgelesen. Wiebke und ich waren davon so begeistert gewesen, dass wir uns mit Filzstift gegenseitig Wunschpunkte ins Gesicht gemalt hatten. »Schön, dass es dir besser geht. Du hast mir gefehlt.«
»Ja, ich habe dich auch vermisst. Willst du was trinken? Kakao?«
Ich nickte und ließ mich von Wiebke in ihr Zimmer führen, wo ich es mir schon mal auf ihrer Schlafcouch gemütlich machte. Während meine beste Freundin in der Küche verschwand, betrachtete ich ihre Hello-Kitty-Sammlung auf der Fensterbank und freute mich, endlich wieder hier zu sein.
»Dann erzähl doch mal: Was habe ich denn in der Zwischenzeit alles verpasst?«, fragte Wiebke, als wir kurz darauf mit zwei dampfenden Tassen heißer Schokolade mit Marshmallow-Garnierung in einem Haufen Kissen lehnten. »Ich habe gehört, du bist mal wieder mit Herrn Bachmann aneinandergeraten?«
»Ach, das ist doch schon ewig her.«
»Linus meinte, es sei vorgestern gewesen.«
Ich runzelte die Stirn. Wiebke hatte natürlich recht. Doch seitdem war so viel geschehen. Ich berichtete ihr von dem, was momentan in Eisenheim vor sich ging.
Wiebke nippte unterdessen an ihrem Kakao. »Wie wollt ihr das Nichts denn aufhalten?«, fragte sie, als ich geendet hatte.
»Keine Ahnung. Das ist ja das Problem. Niemand weiß, ob das überhaupt möglich ist.«
»Mhm.«
Wir tranken eine Weile lang schweigend, bis Wiebke sich schließlich räusperte. »Also, wenn du als Einzige auf diese Asche reagierst und schon wieder das Gefühl hast, den Weißen Löwen zu hören, meinst du nicht, du solltest doch noch mal nach dieser Prophezeiung –«
»Ja, ich weiß, das habe ich auch schon überlegt«, gab ich widerwillig zu und vergrub das Gesicht in den Händen. Bei dem Ball, auf dem mich mein Vater seinen Untertanen vorgestellt hatte, hatte ich zufällig ein paar Gesprächsfetzen zwischen dem Eisernen Kanzler und
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