Nacht aus Rauch und Nebel
beim Aufbau ihrer Unternehmen an den Technologien der Schattenwelt orientiert, indem sie diese auf die Eigenschaften der realen Materie übertrugen. Immer wieder wies unsere Haushälterin zudem auf architektonische Details an den Häusern hin, die an die Schattenwelt angelehnt waren. Hier ein Sims, dort ein Giebel oder ein in einen Stein geritztes Symbol. Es war zum Einschlafen langweilig.
Na gut, dann gab es eben eine Verbindung zwischen diesem und dem farblosen Eisenheim unserer Nächte. Es hätte mich auch eher gewundert, wenn die Wandernden der Vergangenheit keine Spuren in der realen Welt hinterlassen hätten. Ich trottete hinter Christabel her, die uns als Nächstes in ein winziges Museum zur Geschichte der Siedlung schleppte.
Marian hingegen schien tatsächlich so etwas wie Spaß an der ganzen Sache zu haben. Zumindest stellte er so viele Fragen, als könne er sich nichts Schöneres vorstellen, als eine weitere Stunde in diesem Wohngebiet zu verbringen: »Und die Puddelöfen wurden dann aber abgeschafft?«
»Genau, weil das Bessemerverfahren etwa zwanzigmal effektiver war.«
»Zwanzigmal? Wow!« Marian nickte anerkennend.
»Oh ja, wow. Ich raste aus!«, murmelte ich, ließ mich ein Stück hinter die beiden zurückfallen und war unendlich erleichtert, als wir gegen Mittag die sogenannte Coca-Cola-Oase des riesigen Einkaufszentrums betraten, das man in einem ehemaligen Oberhausener Industriegebiet errichtet hatte, das nun »Neue Mitte« hieß.
Christabel steuerte einen der Fast-Food-Stände an, die sich im Kreis um eine Fläche voller Tische mit Klappstühlen gruppierten. Es war voll. Überall saßen Familien mit Kindern, die durch ihre Strohhalme schlürften. Dazwischen Leute mit prall gefüllten Einkaufstüten und müden Füßen. Über eine riesige Leinwand unter der Decke flackerten Musikvideos und Kinowerbung.
Marian und ich schoben uns zwischen Kinderwagen und Rucksäcken hindurch zu einem freien Tisch, auf dem eine alte Pommes klebte. Ich setzte mich so weit wie möglich von dem labberigen Ding entfernt hin, Marian ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber fallen. Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren wir allein. Keiner von uns beiden schien so recht zu wissen, was er sagen sollte.
Marian faltete eine Papierserviette zu einem Schiffchen, bis er irgendwann den Blick hob. »Geht es dir … gut?«, fragte er. Von der Ausgelassenheit, die er den Vormittag über an den Tag gelegt hatte, war nicht die geringste Spur geblieben. Stattdessen wirkte Marian erschöpft, die Bewegungen seiner Finger, die über die Serviettenkanten strichen, fahrig.
Mein Mund wurde trocken. Ob es mir gut ging? Nein! Natürlich nicht. Die Schattenwelt spielte verrückt, Ascheflocken verursachten mir Schmerzen und ich war gestern beinahe nicht mehr rechtzeitig von der einstürzenden Brücke heruntergekommen. Ich hätte wirklich gut eine Umarmung von dem Mann, den ich liebte, vertragen können. Da ich die aber wohl ohnehin nicht bekommen würde, beschränkte ich mich auf ein Achselzucken. »Es geht schon«, sagte ich und betrachtete die Tischplatte.
Marian schien mir nicht so recht zu glauben und senkte die Stimme. »Ich meinte wegen gestern Nacht, wegen des Erdbebens. Du hast dich verletzt, oder?«
»Unsinn.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung und hoffte, dass er nicht sah, dass ich zitterte.
»Hör mal, was ich eigentlich sagen will: Ich weiß, dass es gerade ziemlich schwierig ist mit Eisenheim und mit … uns. Deshalb wollte ich dich um Entschuldigung bitten. Es tut mir leid, dass ich im Moment nicht mehr für dich da sein kann, Flora.«
»Ist schon gut, ich verstehe das«, sagte ich, riss ihm das Serviettenschiffchen aus der Hand und benutzte es, um die Schrumpelpommes von unserem Tisch zu fegen. Sie landete auf dem Fußboden und zermatschte kurz darauf unter dem Rad des Einkaufskarrens einer Oma. Glühende Wut wallte in mir auf. Wut darüber, dass es Eisenheim, das Nichts und den Weißen Löwen gab, die uns daran hinderten, zusammen zu sein. Und auch ein bisschen Wut darüber, dass Marian sich zwar bei mir entschuldigte, dass das aber rein gar nichts ändern würde. Irgendetwas geschah in Eisenheim, was mit dem Weißen Löwen und mir zu tun hatte und mir eine Scheißangst machte. Was immer es war, ich ahnte schon jetzt, dass ich Marian an meiner Seite brauchen würde, um es durchzustehen. Doch vorerst war ich allein. Wir waren zusammen und doch getrennt. In meiner Brust verkrampfte sich
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