Nacht aus Rauch und Nebel
in dem mein Vater meine Seele so viele Jahre eingesperrt hatte. In dieser neuen Erinnerung war ich noch ein Kind und – Doch in diesem Moment schob die Dame ihren Ärmel ein Stück herunter. »Du solltest dein Eigentum mal ein bisschen zur Räson bringen«, beschied sie mich und schritt erhobenen Hauptes den Gang hinunter.
Kaum waren ihre Schritte verklungen, fuhr ich zu einem schwach leuchtenden Sieben herum, der sich auf Höhe meiner Knie an die Wand presste. »Na los, gehen wir«, sagte ich. »Vielleicht finden wir ja bei den Gelehrten in der Philistergasse die Antworten, die wir suchen.«
Das Backand gehörte zu den Stadtteilen, die so weit entfernt von Notre-Dame lagen, dass ich unmöglich zu Fuß dorthin gehen konnte. Stattdessen erklomm ich unweit der Kathedrale einen der zahlreichen Sturmdorne, die sich in den Himmel über Eisenheim schraubten, und wartete auf den nächsten Zeppelin. Beim Kapitän kaufte ich für einen Silbergroschen eine Fahrkarte, dann setzte ich mich auf eine Bank im Innern der Gondel, während Sieben in die Gepäckablage schwebte.
Das Luftschiff kreuzte die eiskalten Winde mit dröhnendem Motor. Durch das Fenster zu meiner Rechten erkannte ich das silberne Band des Flusses mit den Resten der zerstörten Brücke, die Türme des Kremls, in dem in dieser Welt ein Ministerium untergebracht war, und die Silhouette der Pyramiden von Giseh. Am Horizont erstreckte sich der Krawoster Grund mit den teilweise zerstörten Baracken der Schlafenden. Ich kniff die Augen zusammen und beugte mich ein wenig vor, um besser sehen zu können, denn etwas kam mir seltsam vor. Von hier oben sahen sie winzig aus, doch dort waren definitiv Menschen unterwegs. Viele Menschen, die sich durch die lehmigen Straßen des Arbeiterviertels drängten und nicht etwa in Richtung des Schlotbarons zu Fabriken und Bergwerken strömten, sondern geradewegs auf das Nichts zu. Außerdem zogen ungewöhnlich viele Schattenreiter ihre Kreise über dem Stadtteil. Ich stutzte.
»Die Schnarcher benehmen sich auch immer bekloppter«, sagte der Mann neben mir zu seiner Nachbarin, einer Frau mit einem Hut, der an ein welkes Salatblatt mit Schleife erinnerte.
Sie nickte eifrig. »Vielleicht sind sie mit ihrer Arbeit nicht ausgelastet.«
»Nicht ausgelastet?«, entfuhr es mir. Schließlich ließen wir die Schlafenden bis zur Erschöpfung im Schlotbaron für uns schuften. Nacht für Nacht, ohne Wochenende oder Urlaubstage. Nicht umsonst waren ihre Seelen verhärmt und abgemagert.
Zwei Köpfe fuhren zu mir herum. Die Frau mit dem Salathut schürzte verärgert die Lippen. Der Mann runzelte die Stirn.
»Ich glaube kaum, dass –«, setzte ich an, doch ich kam nicht weiter, weil sich der missbilligende Ausdruck auf dem Gesicht der Frau in ein falsches Lächeln verwandelte.
»Ich bin entzückt, Ihnen endlich einmal persönlich zu begegnen, Prinzessin. Mein Name ist Mariana Tassani und das ist mein Ehemann Eduardo.« Sie stieß ihren Mann in die Seite, der daraufhin eine Verbeugung andeutete und »Sehr erfreut« murmelte.
»Fahren Sie auch zum Varieté? Dürfen wir Sie begleiten?«, fragte die Frau und lächelte noch breiter. Die Schleife auf ihrem Hut hüpfte, als sie sich über ihren Mann zu mir beugte. »Die neue Show soll ja fantastisch sein.«
»Ich muss … äh, ehrlich gesagt, hier raus«, stammelte ich. So rasch ich konnte, schob ich mich an den beiden vorbei und verbrachte die letzten Minuten bis zur nächsten Haltestelle stehend in der Nähe der Tür.
Seit mein Vater mich auf dem Bankett vor ein paar Wochen offiziell seinen Untertanen vorgestellt hatte, war es mit meiner Anonymität vorbei. Leider vergaß ich das immer wieder. In allen Zeitungen der Schattenwelt hatte ein Foto von mir geprangt, ich hatte sogar ein kurzes Interview geben müssen, bei dem mich ein Reporter mit Füllfederhalter und edlem Notizbuch nach meinem Lieblingsessen und dem Designer meiner Kleider gefragt hatte (Was für ein Designer? Die Dinger hingen einfach in meinem Schrank!). Es fiel mir schwer, mich an meine plötzliche Bekanntheit zu gewöhnen, und meistens vergaß ich sie vollkommen. Da ich draußen ohnehin andauernd meinen weiten grauen Mantel mit der Kapuze trug, konnte ich mich einigermaßen unbehelligt durch die Stadt bewegen. Es waren Situationen wie diese, die mich darauf aufmerksam machten, dass das nicht selbstverständlich war. Denn anscheinend gab es in der Schattenwelt tatsächlich Leute, die Salathüte trugen, die Klatschspalten
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