Nacht der Dämonin / Magischer Thriller
sahen – eine nackte, gefesselte Leiche, den Blicken Fremder ausgeliefert.
Ich gab mir Mühe, sie so zu sehen, wie Paige es tat. Als einen Menschen. Aber heute Nacht konnte ich nichts anderes tun, als die Tatsachen zur Kenntnis zu nehmen. Sie sah aus, als sei sie im Collegealter, aber das verschmierte Make-up machte es schwierig, Genaues zu sagen. Blond gefärbtes Haar. Verblasste Einstichstellen an den Armen. Eine Tätowierung an einem Knöchel, die möglicherweise bei der Identifizierung helfen würde.
Ich wandte meine Aufmerksamkeit den Kleidungsstücken zu, die auf dem Fußboden verstreut waren. Männerkleidung, Socken, Schuhe, Unterwäsche, ein Hemd … Von Hosen war nichts zu sehen. Derjenige, der mit ihr zusammen gewesen war, hat allem Anschein nach halb bekleidet die Flucht ergriffen. Ganz offenkundig war es nicht der junge Mann aus dem Durchgang gewesen. Aber hatte er sie umgebracht?
Ich beugte mich vor, um mir das Hemd näher anzusehen. Ich musste annehmen, dass es Carlos gehörte. Die junge Frau war nicht hastig von einem experimentierfreudigen Amateur festgebunden, sondern mit Lederriemen gefesselt worden. Die sexuellen Vorlieben meines Bruders waren innerhalb der paranormalen Gemeinschaft kein Geheimnis.
»Sie ist gefoltert worden.« Paige hatte sich die junge Frau näher angesehen. »Das sind Messerwunden, aber sie sind klein und flach, vielleicht von dem hier.« Sie zeigte auf ein Taschenmesser, das neben einer Kondomverpackung lag, und beugte sich dann über den Bauch des Mädchens. »Und ich glaube, das sind … Bissspuren?«
Auch dies konnte in der Tat auf eine Folterung hinweisen, aber wenn Carlos involviert war, musste das nicht zwingend der Fall sein. Aber ich hielt es nicht für notwendig, Paige darüber aufzuklären.
Ein Schatten fiel über Paige. Ich reagierte mit einer Rückstoßformel, die in die verschwommene Bewegung hineinfuhr, bevor ich auch nur hätte sagen können, was es war.
Carlos fiel rückwärts wieder in den offenen Schrank, gerade als Griffin aus dem Nebenraum gestürmt kam und sich auf ihn stürzte; beide Männer gingen zu Boden.
»Lass mich los, du Trottel!« Ein wütender Blick in meine Richtung. »Ich bin dein
Bruder,
Idiot!«
Es war das erste Mal, dass ich diese Bezeichnung von Carlos hörte. Er redete mich spöttisch mit »kleiner Bruder« an, aber in einer ernsthaften Unterhaltung war ich unweigerlich sein
Halbbruder
– wenn er gezwungen war, überhaupt eine Verwandtschaft einzugestehen.
Er kämpfte gegen Griffin, der ihn gepackt hielt, war aber kein Gegner für den größeren Mann. Dann zog Griffin mit einer Hand eine Plastikfessel aus der Tasche und sah mich fragend an. Ich nickte.
»Was zum Teufel soll das eigentlich?«, fragte Carlos. »Ich denke, du sollst mich retten kommen?«
»Wir müssen dich ins Hauptquartier bringen«, sagte ich. »Wenn du …«
»Hauptquartier? Den Teufel wirst du, du verräterisches Dreckstück. Von dir würde ich mich nicht mal über die Straße begleiten lassen.«
Vom Bruder zum Verräter innerhalb von zwanzig Sekunden. Wenn ein Ansatz nicht funktionierte …
»Ich muss dich mitnehmen. Hector … Hector ist tot.«
»Hec …?« Er blickte mich an. »Quatsch.«
Als ich nicht antwortete, sah er mir forschend ins Gesicht.
»Ah, Scheiße«, sagte er. »Was war’s? Ein Autounfall? Herzversagen? Ich weiß, dass sein Herz …« Carlos’ Gesichtsausdruck wurde härter. »Wenn’s Herzversagen war, dann kannst du dich drauf verlassen, dass ich die Verantwortung bei dir sehe, Lucas. Du marschierst am Nachmittag mal eben ins Büro, ohne jede Vorwarnung …«
»Er ist ermordet worden.«
Seine Überraschung wirkte echt.
»So wie William auch.«
Sein Gesichtsausdruck wandelte sich zu blankem Schock. »Ach was. Scheiße, nie im Leben!«
»Es tut mir leid.«
»Yeah? Ja, das kann ich mir richtig vorstellen. Ich wette, du reibst dir grade die Hände. Bist die beiden endlich los, und damit wäre der Weg ja frei. Jetzt kannst du den Laden übernehmen und in den Sand setzen, Dad ausmanövrieren und sagen, du tust der Welt einen Gefallen damit. Na ja, ich hätte da eine Information für dich, kleiner Bruder.
Ich
bin noch da. Und solange ich noch da bin, hast du Konkurrenz.«
Und das war es. Schock und Kummer hatten exakt dreißig Sekunden vorgehalten, bevor sich die eigentlichen Interessen zurückmeldeten.
Griffin machte eine Bewegung, als wollte er Carlos wegführen, aber ich schüttelte den Kopf. Eines musste ich noch
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