Nacht der Füchse
Frankreich?«
»Nein«, erwiderte sie. »Auf Jersey.«
Er schloss kurz die Augen und erschauderte. »Sie sind Bri tin?«
»Das hoffe ich doch! Als ich das letzte Mal von meinem Mann hörte, war er Major im Tank-Korps und diente in der westlichen Sahara. Ich heiße Helen de Ville.«
»Colonel Hugh Kelso.«
»Amerikanische Air Force? Wo ist denn Ihre Maschine ab gestürzt?«
»Ist sie nicht. Ich bin Offizier der Army.«
»Army-Offizier? Aber das ergibt doch keinen Sinn. Um alles auf der Welt, wo kommen Sie denn her?«
»Aus England. Von einem Schiff, das in der Lyme-Bucht torpediert wurde.« Der Schmerz stach ihm wie mit Messern ins Bein, und er ächzte und verlor beinahe das Bewusstsein.
Sie schlug das zerrissene Hosenbein auf und runzelte die Stirn. »Sieht schlimm aus. Sie müssen ins Krankenhaus.«
»Komme ich da mit Deutschen in Berührung?«
»Leider.«
Seine Hände packten ihren Marinemantel. »Nein – keine Deutschen!«
Sie löste seine Hände und schob ihn sanft zurück. »Bleiben Sie ruhig. Ich muss Sie eine Weile allein lassen, ein Gespann holen.«
»Gut«, sagte er. »Aber keine Deutschen. Die dürfen mich nicht in die Finger bekommen. Das müssen Sie mir verspre chen! Wenn Sie das nicht können, müssen Sie mich töten. Hier, hier habe ich eine Browning-Pistole.«
Er zerrte daran, und sie beugte sich mit entschlossenem Ge sicht über ihn und zog die Waffe aus dem Halfter am linken Oberschenkel. »Sie werden nicht sterben – und die Deutschen kriegen Sie auch nicht. Mehr kann ich Ihnen nicht versprechen. Warten Sie auf mich.«
Energisch schob sie sich die Pistole in die Tasche, machte kehrt und eilte fort. Kelso blieb am nebelverhangenen Strand liegen und versuchte sich zu fassen. Nach einiger Zeit begann das Bein wieder zu schmerzen und erinnerte ihn an das Mor phium im Notkasten. Er begann auf das Rettungsfloß zuzukrie chen. Aber damit hatte er sich zu viel zugemutet. Dunkelheit hüllte ihn ein.
4
Helen de Ville verließ den ausgefahrenen Strandweg und wähl te eine Abkürzung durch den Kiefernwald; dazu musste sie den steilen Küstenhang erklimmen. Allerdings war sie ziemlich drahtig und gut in Form, was nach vier Jahren deutscher Beset zung nicht verwunderte; die Versorgungsengpässe hatten sie beinahe dreißig Pfund gekostet. Scherzhaft bemerkte sie dazu, dass sie nun wieder genauso schlank war wie damals mit acht zehn, ein unerwarteter Bonus für ihre zweiundvierzig Jahre. Außerdem hatte das Fehlen eines Autos und eines öffentlichen Verkehrssystems zur Folge, dass sie es gewöhnt war, jede Wo che viele Kilometer zu Fuß zurückzulegen.
Am Waldrand blieb sie stehen und blickte zum Haus hin über. Das De-Ville-Anwesen gehörte nicht zu den größten Her renhäusern auf der Insel. Einst, als die Familie ihre Hochblüte erlebte, war es der größte Bau gewesen, doch hatte Ende des neunzehnten Jahrhunderts ein katastrophaler Brand einen gan zen Flügel vernichtet. Es war ein sehr altes Haus aus JerseyGranit, der schon ziemlich verwittert aussah. Zu beiden Seiten des Eingangs erstreckten sich Reihen von Verandatüren, und eine Granitmauer trennte das Haus von einem seitlich gelege nen Hof.
Helen de Ville nahm sich Zeit, denn im Hof parkte ein alter Morris – eines der Automobile, die vom Feind beschlagnahmt worden waren. Seit zwei Jahren hatten sich deutsche Marineof fiziere bei ihr im Haus einquartiert. Sie blieben unterschiedlich lange, manche Männer nur ein oder zwei Nächte, wenn etwa Einheiten der 5. Schnellboot-Flottille von Guernsey herüber kamen.
Die meisten aber waren Stammgäste, junge Offiziere, die bei verschiedenen Marineeinheiten auf Jersey dienten. Auch unter ihnen wütete der Krieg. Oft kam es im Bereich der Kanalinseln zu Zusammenstößen mit britischen Torpedobooten, außerdem griff die RAF ständig Konvois an, die nach Granville, St. Malo und Cherbourg unterwegs waren, sogar nachts. Viele Offiziere fielen, andere überlebten. Als Helen über den Rasen auf das Haus zuging, öffnete sich die Tür, und einer dieser Männer trat ins Freie.
Er trug einen weißen Sweater, einen alten Fischermantel und Matrosenstiefel; in der einen Hand hielt er einen Seesack. Das Gesicht unter der salzbefleckten Marinemütze war attraktiv und verhieß Kühnheit und Aufgeschlossenheit. Ein tollkühner Bursche, der geradewegs aus dem sechzehnten Jahrhundert zu kommen schien. Er trug eine weiße Mütze, wie es vorwiegend deutsche U-Boot-Kommandeure
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