Nacht der Füchse
Jack? Natürlich ist das bei den Aufgaben, die er in den letzten vier Jahren lösen muss te, ungemein nützlich gewesen. Vermutlich ist er darum am Leben geblieben, während die meisten anderen gestorben sind.«
»Zwei Dinge muss ich klarstellen«, sagte Carter, »für den Fall, dass Sie einen schlechten Eindruck von Harry Martineau gewinnen sollten. Seine Mutter wurde zwar in den Vereinigten Staaten geboren, doch war sie deutscher Abstammung, und Harry lebte als Junge lange in Dresden und Heidelberg. Sein Großvater, Professor für Chirurgie, war aktiver Sozialist. Er stürzte vom Balkon seiner Wohnung und starb. Ein schlimmer Unfall.«
»Ermöglicht durch zwei Gestapo-Unholde, die ihn an Armen und Beinen hielten und über das Geländer schleuderten«, fügte Munro hinzu.
»Dann gab es da eine junge Jüdin namens Rosa Bernstein.«
»Aha«, warf Sarah ein. »Ich begann mich schon zu fragen, ob Frauen in seinem Leben gar keine Rolle spielten. Von Ehe war bisher nicht die Rede.«
»Er lernte Rosa Bernstein 1932 kennen, als sie ein Jahr in St. Hugh’s in Oxford studierte. Damals verbrachte er schon regel mäßig einige Zeit auf dem Kontinent. Beide Eltern waren tot. Der Vater hatte ihn finanziell ziemlich gut gestellt, und als ein ziges Kind hatte er keine engen Verwandten.«
»Aber er und Rosa haben nicht geheiratet?«
»Nein«, antwortete Munro und fügte offen hinzu: »Vorurtei le findet man oft auf beiden Seiten, meine Liebe. Rosas Eltern waren orthodoxe Juden und konnten sich nicht mit dem Ge danken anfreunden, dass ihre Tochter einen Nichtjuden heira ten wollte. Einige Jahre lang gab es zwischen ihr und Harry, was man wohl eine stürmische Affäre nennen müsste. Ich kannte beide recht gut. Ich war damals selbst in Oxford.«
»Was passierte dann?«
Carter übernahm die Antwort: »Sie war im sozialistischer Untergrund aktiv. Fuhr als Kurier immer wieder zwischen Eng land und Deutschland hin und her. Im Mai 1938 wurde sie festgenommen und ins Gestapo-Hauptquartier in der Berliner Prinz-Albrecht-Straße gebracht. Dort wurde sie überaus brutal verhört und unseren Informationen zufolge hingerichtet.«
Ein langes Schweigen trat ein. Sarah schien ihren Gedanken nachzuhängen, während sie aus dem Fenster schaute. »Sie sind nicht entsetzt?«, fragte Munro. »Das finde ich seltsam, bei Ih rem Alter.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin jetzt seit zwei Jahren Kran kenschwester. Täglich sehe ich den Tod. Harry Martineau mag also die Deutschen nicht?«
»Da muss man differenzieren«, antwortete Carter. »Er mag keine Nazis.«
»Ja, das verstehe ich.«
Wieder blickte sie aus dem Fenster. Sie war irgendwie unru hig, gereizt – ein Zustand, der allein mit Martineau zu tun hat te, einem Mann, den sie noch gar nicht kannte. Er beschäftigte sie. Ließ sie nicht wieder los.
»Eine Frage haben wir Ihnen bisher noch nicht gestellt«, sag te Carter. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, dass ich per sönlich werde, aber gibt es im Augenblick jemanden in Ihrem Leben? Jemanden, der Sie vermissen würde?«
»Ein Mann?« Sie lachte gepresst. »Himmel, nein! Im Crom well arbeite ich selten weniger als zwölf Stunden am Tag. Da bleibt gerade Zeit, ein Bad zu nehmen und etwas zu essen, ehe man ins Bett fällt. Für Männer habe ich keine Zeit. Mein Vater sitzt in einem japanischen Lager. Ich habe eine alte Tante in Sussex, seine ältere Schwester – aber das war’s auch schon. Niemand würde mich vermissen. Ich gehöre ganz Ihnen, meine Herren.«
Sie äußerte diese Worte forsch und mit einem Anschein der Welterfahrenheit, der bei einem so jungen Menschen anrührend wirkte.
Munro fühlte sich unbehaglich, was selten vorkam. »Es ist wichtig, das müssen Sie mir glauben.« Er beugte sich vor und legte ihr eine Hand auf den Arm. »Sonst würden wir nicht da nach fragen.«
Sie nickte. »Ich weiß, Brigadier, ich weiß.« Sie wandte sich ab und starrte wieder auf die vorbeihuschende Landschaft. Ihre Gedanken galten Martineau.
Als er erwachte, hatte er einen unangenehmen Geschmack im Mund und spürte einen dumpf pochenden Schmerz hinter dem rechten Auge. Dagegen gab es nur ein Mittel. Er zog einen al ten Trainingsanzug an, schnappte sich ein Handtuch, verließ
das Haus und trabte zum Meer hinab.
Dort zog er sich aus, watete durch das flache Wasser und stürzte sich in die Brandung. Der Morgen war eigentlich alles andere als angenehm. Der Himmel dräute schiefergrau, der Wind roch
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