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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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Sachen gesehen – fernbestimmte Kinder mit Antennen, abgestempelte Menschen mit Buchstaben auf der Haut, tief eintätowiert, Menschen mit Augen hinten, die ständig auf der Hut waren – es gibt für alles Bilder. Manchmal wollte ich sie gar nicht sehen.«
    Er schweigt, vergraben in Erinnerungen an die Bilder.
    »Sag mal, kommt jetzt Kapitel drei?«
    »Wenn wir endlich damit anfangen, schon.«

    Am nächsten Morgen stieg Frederic als Allererstes hinauf in den zweiten Stock und klingelte bei der alten Dame. Er wusste nicht mal ihren Namen. An der Klingel stand nur unleserliches Gekritzel. Er klingelte sieben Mal. Doch niemand öffnete. In der Wohnung blieb alles still. Seltsam.
    Als er auf dem Weg zur Schule am Abrisshaus vorbeikam, entdeckte er durch eine Lücke in der Mauer jemanden im Hof. Er blieb stehen und sah genauer hin. Im Hof des alten Hauses standen drei alte metallene Mülltonnen, und vor diesen Tonnen hatte sich ein Mann in orangefarbener Müllabfuhrweste aufgebaut. Ein Mülleimerleerer. Aber was für Müll gab es in einem unbewohnten Abrisshaus abzutransportieren? Frederic blieb stehen. Auf der Schulter des Mannes saß ein verschlafenes Sandmännchen. Jetzt zog er einen Zeigestock aus der Tasche, hob ihn mahnend und sprach: »So, jetzt noch mal den Indikativ Präsens. Sum, es, est …«
    Der Mülltonnenlehrer lehrte die Tonnen vor dem Abrisshaus Latein! Oder jedenfalls glaubte er, er würde sie Latein lehren. Ein Professor ohne Anstellung? Frederic schüttelte den Kopf und ging weiter.
    Bei der Schule merkte er, dass er zu früh war, weil er ganz vergessen hatte, auf dem Weg Maschinen zu erfinden. Er setzte sich auf den rechteckigen Steinklotz, der vor der Schulmauer herumstand und in eingemeißelten, angeberisch großen Buchstaben GYMNASIUM ST. ISAAC verkündete. Bork Bruhns hatte den Stein dort aufstellen lassen – vermutlich ohne zu merken, dass er aussah wie ein Grabstein. Wenigstens konnte man bequem darauf sitzen.
    »Ich brauche einen Verbündeten«, flüsterte Frederic den wippenden Ästen der Bäume zu. Die Bäume nickten zustimmend über die Mauer. »Es ist eine ganz rationale Überlegung«, wisperte Frederic. »Jemand muss mir helfen, Bruhns zu überwachen. Es ist nicht so, dass ich einen Freund brauche, weil ich allein bin. Ich bin gern allein. Wirklich.«
    Die Bäume rauschten eine zweifelnde Antwort.
    »Ihr braucht gar nicht so zweifelnd mit den Blättern zu schlackern!«, sagte Frederic.
    Diesmal war etwas im Rauschen der Bäume, das sich anhörte wie ein Wort. Ein zweisilbiges Wort: Männer. Oder Penner. Oder …?
    »Änna?«, fragte Frederic die Bäume. »Änna geht nicht. Sie ist ein Mädchen. Und außerdem ist sie mir unheimlich.«
    Er hörte im Wind etwas wie freilich . Oder Frühling. Zeigling . Oder sagten die Bäume am Ende Feigling ?
    »Ach was!«, sagte Frederic empört. »Ich brauche eben einen Jungen, mit dem ich reden kann!«
    In diesem Moment kam der starke Georg die Straße entlang.
    »He, Georg«, sagte Frederic.
    »He, Frederic«, sagte der starke Georg. Er scharrte verlegen mit den Füßen, als wäre es ihm unangenehm, mit Frederic zu sprechen. »Bist du wieder okay?«
    »Glaub schon«, meinte Frederic.
    »Warum hast du in Deutsch nur Blablabla geschrieben?«, fragte Georg.
    »Mir war so«, antwortete Frederic.
    »Hast du keine Angst, dass dein Vater schimpft, wenn du schlechte Noten schreibst?«
    »Nö«, sagte Frederic. »Wieso sollte er? Mein Vater schimpft wegen anderer Sachen. Zum Beispiel, wenn ich umfalle und ihn zu Tode erschrecke. Aber wegen Noten? Noten sind doch unwichtig.«
    »Glaubst du?«, fragte Georg. »Die anderen glauben das nicht.«
    Der Wind wehte sein Hemd am Kragen ein wenig auseinander, und da sah Frederic, dass der starke Georg mit den Eisenhänden innen ganz schwach und weich war. Seine zarte rosa Babyhaut spannte sich über rosa Babyspeck, und darunter schien es keine Knochen zu geben. Die Eisenhände hatte sich der starke Georg wohl nur angeschafft, damit man nicht merkte, wie schwach er war. Nun, einer mit Eisenhänden war vielleicht nicht die schlechteste Wahl, wenn man einen Verbündeten brauchte.
    »Hast du Lust, heute nach der Schule mit zu mir nach Hause zu kommen?«, fragte Frederic. »Wir könnten …« Mein Gott, was tat man mit dem starken Georg, um ihn für sich zu gewinnen? »Ich könnte dir meine Maschinensammlung zeigen. Alle selbst gebaut. Ich habe sogar eine Maschine, die von selbst einen Fußball wegkicken

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