Nacht der gefangenen Träume
Schuhe.
Doch er sah noch immer den dunklen Fleck auf Hendriks Hemd vor sich. Und er begann zu begreifen: Natürlich machte sich Hendrik Sorgen. Und genau das war der Grund dafür, dass die Wunde wieder aufgebrochen war. Hendrik machte sich ständig Sorgen, zu viele Sorgen: Die Wunde konnte unmöglich heilen. Und mit einem Mal war Frederic auch klar, wer sie gerissen haben musste. Es war Anna gewesen. Anna, die an einem Montag im Herbst unter die Räder eines Autos geraten war. Vor acht Jahren. Wenn jemand einen Arzt brauchte, dann Hendrik. Jemand musste nach all dieser Zeit seine Wunde nähen.
Doch als sie endlich an der Reihe waren, schüttelte der Arzt Hendrik die Hand, ohne den Fleck zu bemerken.
Die meisten Ärzte sind wohl blind für unsichtbare Wunden.
»Setzen-Sie-sich«, sagte der Arzt. »Und-du-hierhin«, sagte er. »Tut-es-weh-wenn-ich-fest-hier-draufklopfe?«, sagte er. »Du-bist-sicher-geimpft«, sagte er. »Atme-mal-tief-ein-und-aus«, sagte er.
Danach fragte er Frederic dreiundzwanzig Mal, ob ihm zuerst schwarz vor Augen gewesen war oder er zuerst umgefallen war. Irgendwie schien er sich die Reihenfolge der Dinge nicht merken zu können.
»Ich hab nichts, oder?«, fragte Frederic schließlich.
Der Arzt machte mit dem Kopf eine Bewegung, die man als Nicken oder als Kopfschütteln deuten konnte, je nachdem, was man hören wollte.
Dann schrieb er Frederics Namen auf ein Karteikärtchen, zog eine Schublade in seinem Kopf auf, die Frederic bisher nicht gesehen hatte, und steckte die Karte hinein. Aaaha.
»Gut, dass wir uns mal ausführlich unterhalten haben!«, sagte der Arzt.
Zu Hause verzog sich Hendrik mit einem Laptop in sein Arbeitszimmer, auf dem er für jemanden ein Programm einrichten sollte. Frederic breitete den Stadtplan auf dem Boden aus: Die Johann-Wolfgang-von-Schiller-Straße, in der Bruhns wohnte, war eine fahrrädliche Viertelstunde entfernt. Er würde Hendrik sagen, er wolle früh schlafen, und gleich nach dem Abendessen losfahren.
Aber bis zum Abendessen waren es noch drei Stunden. Schließlich hielt Frederic es in der Wohnung nicht mehr aus. Er lief die Treppen hinunter und klopfte an Lisas Fenster.
»Herein«, sagte Lisa und öffnete.
»Benutzt du immer noch das Fenster?«, fragte Frederic.
Sie nickte. »Ich gewöhne mich daran.«
»Ich habe eine Idee, wie du abschließen kannst«, meinte Frederic. »Sonst klaut jemand …« Er sah sich um. Wer wollte schon eine staubige Topfpalme klauen oder eine alte Stehlampe mit Fransen? Oder moderne Bilder, auf denen kein Mensch etwas erkennen konnte?
»… zum Beispiel den Fernseher«, sagte er, erleichtert, etwas gefunden zu haben.
»Oh, der ist sowieso kaputt.« Lisa lachte. »Ich habe ihn nur, um die Leute von der GEZ zu ärgern, die reingucken und denken, sie könnten mir Geld abknöpfen.«
Frederic schüttelte den Kopf. Lisa war schon ziemlich verrückt.
»Du bist schon ziemlich verrückt«, sagte er. »Ich baue dir trotzdem ein Schloss. Ich kann solche Dinge. Früher war ich richtig gut in Physik und Mathe, ganz ohne Hausaufgaben – ein Schloss zu bauen ist einfach.«
»Du baust es jetzt? «, fragte Lisa.
Frederic nickte. »Es ist dringend, dass es jetzt gebaut wird«, erklärte er und sah ihr an, dass sie ihm das nicht glaubte. Aber er konnte ihr ja schlecht erzählen, dass er ein Schloss bauen musste, um nicht dauernd über Bruhns nachzudenken und sich zu Tode zu fürchten, oder?
»Hast du einen Strohhalm?«, fragte er deshalb. »Und etwas Wurstkordel?«
Kurze Zeit später bohrten und schraubten und drahteten Lisa und er alle möglichen Dinge zusammen, bis Hendrik von oben aus dem Fenster rief, es sei Abendessenszeit. Die Fenster-schließ-Maschine war beinahe fertig. Alles, was noch fehlte, war ein bestimmter Saugnapf. Frederic legte ihn draußen aufs Fensterbrett und wischte sich die öligen Hände an der Hose ab.
»Frederic?«, sagte da jemand über ihm. Er fuhr hoch. Es war Kahlhorst, der umfangreiche Biolehrer von St. Isaac.
»Herr Kahlhorst!«, rief Lisa.
Frederic sah von einem zum anderen. Kannten die sich? Woher?
»Frau Eveningsky!« Ein breites Grinsen erschien auf Kahlhorsts Gesicht. »Wohnen Sie jetzt hier? Ich wollte nur eben um die Ecke zum Zigarettenautomaten.«
Wer’s glaubt, dachte Frederic. Zigarettenautomat. Eine blödere Ausrede konnte man wohl nirgends finden. Spionierte Kahlhorst Frederic hinterher – im Auftrag von HD Bruhns?
» Allerdings wohne ich hier«, sagte Lisa, die also doch
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