Nacht der gefangenen Träume
kann.«
»Echt?«, fragte der starke Georg. Dann überzog sich sein dickes Gesicht mit plötzlicher Besorgnis. »Aber ich kann heute nicht«, sagte er. »Ich muss Hausaufgaben machen. Und dann muss ich zur Mathenachhilfe.«
»Morgen?«, fragte Frederic.
»Morgen muss ich genauso Hausaufgaben machen! Und lernen, für die nächste Lateinarbeit.«
»Ich nehme an, übermorgen musst du auch lernen?«, erkundigte sich Frederic.
Der starke Georg nickte. »Herr Direktor Bruhns sagt, wenn ich mich ordentlich anstrenge, kann etwas aus mir werden.«
»Kein Zweifel«, murmelte Frederic. Fragte sich bloß, was.
Die anderen Schüler begannen, aus den Bussen zu strömen und das Tor zu stürmen.
»Wir sollten reingehen«, sagte Georg. »Sonst kommen wir zu spät.«
Frederic vermied es an diesem Tag, Änna in die Augen zu blicken, in denen so viel Traurigkeit lag. Er vermied es überhaupt, in ihre Richtung zu gucken. Er wollte die Kette an ihrem Fuß nicht ansehen müssen und nicht in seinen Ohren die Bäume Feigling rauschen hören.
Heute Nacht war Neumond, hatte Bruhns gesagt. Und irgendetwas Schreckliches würde geschehen, mit Änna. Frederic jedoch gab das Schreckliche eine Chance: Er würde Bruhns nachschleichen und alles darüber herausfinden. Es kam ihm vor, als benutzte er Änna für seine Zwecke. Er fühlte sich scheußlich.
In der Pause verirrte er sich ganz aus Versehen ins Sekretariat, um Bruhns’ Privatadresse im Computer der Sekretärin zu suchen. Die Sekretärin war zum Glück mal wieder nicht da. Nur die gewohnte kalte Tasse Kaffee leistete Frederic Gesellschaft. Auf dem Bürostuhl vor dem Computer stand die große, klobige Kaffeemaschine. Als Frederic seine Finger auf die Tastatur legte, gluckerte sie so plötzlich, dass er zusammenzuckte. Der kleine rote Knopf leuchtete wie ein böses Auge, und oben spuckte die Maschine fauchend etwas dampfendes heißes Wasser aus. Moment. War sie nicht eben noch ausgeschaltet gewesen? Und was tat überhaupt die Kaffeemaschine auf dem Bürostuhl? Er schüttelte irritiert den Kopf und beachtete sie nicht weiter. Vielleicht hatte jemand sie dorthin gestellt, um daran zu denken, dass sie repariert werden musste.
Frederic richtete seinen Blick auf den Bildschirm und zwang den Computer, die Listen mit den Adressen der Lehrer auszuspucken. Es war nicht ganz unpraktisch, dass Hendrik die Computer reparierte und programmierte: Alle Computer, die Hendrik bearbeitete, trugen das gleiche Passwort. Hendrik hatte es Frederic nie gesagt und Frederic hatte ihn nie danach gefragt. Er wusste es auch so. Es hieß ANNA.
Als er sich beinahe bis zur richtigen Liste durchgeklickt hatte, ging die Tür auf und er duckte sich schnell hinter den Schreibtisch. Fast stieß er dabei die Kaffeemaschine von ihrem Bürostuhl. Sie gluckerte wieder, als ärgerte sie sich. Gleich darauf fiel ein ungewöhnlich dunkler Schatten auf den Boden vor Frederics Füßen. HD Bruhns. Frederic hielt den Atem an. Aber Bruhns wühlte nur auf dem Tisch herum, fand zwischen Briefpapier und Kugelschreibern, was er suchte, und sagte: »Ha!«
Frederic hob vorsichtig den Kopf. Er sah gerade noch, wie HD Bruhns eine frische Plastikpackung mit Hundespielzeug aufriss, einen roten Gummiball mit blauen Noppen herausfischte und seine spitzen Zähne hineinrammte. Mit dem Ball in der Hand und einem sehr zufriedenen Ausdruck auf dem hageren Gesicht verschwand er hinter der Tür mit der Aufschrift »REKTORAT«. Der Gummiball quietschte protestierend. Frederic schüttelte zum wiederholten Mal an diesem Tag ungläubig den Kopf. Dann richtete er sich auf, schrieb Bruhns’ Adresse vom Bildschirm ab und machte den Computer aus.
Neben ihm, auf dem Bürostuhl, gurgelte die Kaffeemaschine, die ein geheimes Eigenleben zu führen schien. Frederic floh aus dem Sekretariat, bevor die Maschine auf Ideen kam. Man wusste nie.
Um halb zwei saßen Frederic und Hendrik in einem weißen Wartezimmer, das stechend nach Desinfektionsmittel und Duftspray roch – ein missglückter Versuch, das Desinfektionsmittel zu übertünchen. Um halb drei saßen sie immer noch dort. Hendrik wippte nervös mit den Füßen.
»Ich hab schon nichts«, sagte Frederic. »Hör auf, dir Sorgen zu machen.«
»Ich mach mir keine Sorgen«, widersprach Hendrik.
Auf seinem Hemd breitete sich ein großer dunkler Fleck aus. Die Wunde suppte.
»Was ist los?«, fragte Hendrik. »Wieso starrst du mich so an?«
»Oh, nichts«, murmelte Frederic und senkte den Blick auf seine
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