Nacht der gefangenen Träume
einen Nachnamen hatte. »Wie läuft’s in St. Isaac?«
»Na ja«, sagte Kahlhorst mit einem Seitenblick auf Frederic.
» Sie sind noch immer auf der alten Schule?«
Lisa nickte und Kahlhorst seufzte. »Ich hätte niemals dort weggehen sollen.«
»Aber ich dachte, St. Isaac zahlt mehr?«
»Ja, das schon. Es ist nur …« Wieder dieser Seitenblick auf Frederic.
Frederic jedoch hatte damit zu tun, Lisa anzustarren. »Du bist auch … Lehrerin?«
Lisa lächelte. »Wäre es dir lieber, wenn ich etwas anderes wäre? Fritteuse oder Blumentöpferin?«
»Haha«, sagte Frederic.
Kahlhorst kramte ein Taschentuch aus der Innentasche seiner Jacke hervor, um sich die Schweißperlen vom Gesicht zu wischen. Dazu musste er die Jacke öffnen, und Frederic verstand mit einem Mal, weshalb er unaufhörlich aß. Kahlhorst hatte ein schwarzes Loch im Bauch. Ein großes, gieriges schwarzes Loch, das man sogar durch den Stoff seines gestärkten Hemdes dunkel hindurchschimmern sah. Alles, was er aß, musste unweigerlich in diesem schwarzen Loch verschwinden. Schwarze Löcher, das wusste Frederic aus Physik, konnte man nicht füllen. Sie zogen alle Materie an und schluckten sie auf Nimmerwiedersehen. Plötzlich tat Kahlhorst ihm leid. Vielleicht war er doch kein Spion.
Über Frederic tröpfelte ein laues abendliches Gespräch ohne besondere Inhalte dahin, während er all dies dachte. Schließlich verabschiedete sich Kahlhorst sehr förmlich. Aber ehe er ging, griff er gedankenverloren in Richtung Fensterbrett, hob etwas auf, das dort lag, ohne recht hinzusehen, und steckte es in den Mund.
Erst als er schon um die Ecke verschwunden war, fiel Frederic auf, was es gewesen war. »Der Saugnapf!«, rief er. »Er hat den Saugnapf von unserer Fenster-schließ-Maschine gegessen!«
»Wer? Herr Kahlhorst?« Lisa schüttelte ungläubig den Kopf.
»Fünf Minuten sind längst vorbei!«, rief Hendrik in diesem Moment von oben. »Kommst du jetzt rauf oder soll ich dein Abendessen runterwerfen?«
»Was ist mit Lisa?«, rief Frederic zurück.
»Die will sicher auch mal ihre Ruhe haben«, knurrte Hendrik. »Komm jetzt.«
Frederic sah Lisa an und zuckte hilflos mit den Schultern. »Er meint es nicht so.«
»Oh, ich glaube, er meint genau, was er sagt«, erwiderte Lisa. »Er möchte mit dir alleine essen. Er kennt mich nicht mal. Warum sollte er mich zum Abendessen einladen?«
Sie klang ein bisschen enttäuscht.
Warum, dachte Frederic, sollte Hendrik Lisa zum Abendessen einladen? Damit er sie kennenlernte, deshalb. Weil sie nett war. Das reichte doch. Aber vermutlich war genau das für Hendrik ein Grund, niemals mit ihr zu sprechen.
Nach dem Abendessen wartete Frederic, bis Hendrik mit einem Buch in seinem Ledersessel am Wohnzimmerfenster versunken war. Das Leder war brüchig von einem langen Leben mit Hendrik und mit Büchern. Zu Büchern sprach Hendrik mehr als zu Menschen. Wenn er einmal in eine Unterhaltung mit einem von ihnen versunken war, konnte man ihm alles erzählen und er glaubte es aus reiner Bequemlichkeit.
»Ich gehe … äh … ins Bett«, sagte Frederic und steckte seinen Kopf samt Schlafanzugkragen durch die Wohnzimmertür. »Ich bin unheimlich müde.«
Hendrik sah auf und musterte ihn eine Weile eingehend. Doch schließlich nickte er wortlos und sank zurück in sein Buch. Frederic wechselte den Schlafanzug gegen ein Paar Jeans und den dicken Wollpullover, den Anna vor einem gewissen Montag im Herbst für Hendrik gestrickt hatte und der Hendrik in der Wäsche eingegangen war. Als er sein Fahrrad aus dem Flur auf die Straße schob, spürte er die kratzige, alte Wolle auf seinen Armen und war dankbar für sie. Der Herbstwind wirbelte Zeitungsfetzen durch die dunkle Straße und griff mit kalten Fingern nach Frederic. Doch es war nicht der Herbstwind, der ihn frösteln ließ. Es war die Aufregung, und er versteckte sich vor ihr im Kragen des Pullovers. Es kam ihm vor, als wohnte Annas Wärme noch immer auf eine tröstende Weise in den fusseligen Maschen. Frederic atmete tief durch, schwang sich auf sein Rad und fuhr hinaus in die Nacht. Auch das Rad hatte er von Hendrik geerbt, obgleich es nicht eingegangen war. Hendrik selbst fuhr nicht mehr Fahrrad. Frederic hatte sechs Jahre mit ihm darum gekämpft, dass er wenigstens ihn fahren ließ.
Die Nacht schlang ihre Arme um Frederic und trug ihn auf Händen aus Laternenlicht und Wolkenschatten durch ihre Straßen. Denn die Nacht hatte eigene Straßen, ganz andere als der Tag. Es
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