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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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waren zwei Welten, dachte Frederic, zufällig vereint in derselben Stadt. Sie ähnelten sich kaum und man brauchte nicht einmal Vitamin A, um ihren Unterschied zu bemerken. Er hatte das Nachtgesicht der Stadt schon früher gesehen und es hatte ihn stets beunruhigt: Bei Tag waren die Straßen breit und freundlich, die Namen auf ihren Schildern deutlich lesbar, die leuchtend bunten Blumenrabatten ordentlich bepflanzt.
    Die Straßen der Nacht jedoch bestanden aus schmalen Einschnitten zwischen turmhohen Wänden, die steil in den Himmel ragten und sich oben einander zuneigten, als wollten sie den Sternenhimmel ganz ausschließen. Die Buchstaben auf den Schildern kringelten sich in einem seltsamen Eigenleben und verweigerten sich dem Versuch, im Vorbeifahren gelesen zu werden. Die Blumen in den Rabatten hatten ihre Farben sorgfältig verschlossen und seltsame Gewächse aus dichter Dunkelheit sprossen jetzt zwischen ihnen. Die fahle Straßenbeleuchtung schuf neue Schatten und neue Zweifel, statt zu erleuchten und zu erhellen. Selbst das Kopfsteinpflaster schien unter den Reifen des Fahrrads zu buckeln.
    Es kam ihm vor, als dauerte es ein oder zwei Jahrhunderte, bis er die richtige Straße erreichte. Er musste absteigen und das Schild eine Weile streng ansehen, ehe es aufgab, seine Buchstaben in eine einigermaßen lesetaugliche Reihenfolge brachte und Frederics Verdacht bestätigte: Er befand sich in der Johann-Wolfgang-von-Schiller-Straße. Frederic schob das Fahrrad vorsichtig den Bürgersteig entlang, vorbei an sorgsam gestutzten Ligusterhecken und frisierten Sträuchern, und zählte Hausnummern. Kurz vor dem Haus mit der Nummer 8 blieb er stehen, lehnte das Fahrrad an einen Busch und schlich bis unter ein erleuchtetes Fenster. Weiße Spitzengardinen verbargen den Raum hinter dem Fenster, doch ab und zu glitten verschwommene Schemen vorüber. Zerbrochene Stücke von leisen Sätzen drangen durch das Fensterglas. HD Bruhns sagte: »Den Schalter«, jemand anders sagte: »Dass den Strom an …«, und eine dritte Stimme: »Indie Gara.«
    Indie Gara entpuppte sich einen Moment später als Ziel der drei Sprecher hinter der Scheibe, nämlich »in die Garage«. Die Haustür öffnete sich so rasch und lautlos, dass Frederic keine Zeit blieb, sich zu verstecken. Er presste sich an den rauen Putz der Wand und schloss die Augen. Eine Erinnerung aus der Kindheit: Wer die Augen geschlossen hat, kann nicht gesehen werden. Unsinn, natürlich. Sein Atem ging schnell und flach. Annas Pullover schmiegte sich an seinen Hals wie ein stummer Freund. Wenn er sich nur ganz in ihm hätte verstecken können!
    Drei Paar Schritte verließen das Haus, entfernten sich; das Garagentor quietschte. Frederic blinzelte. Nein, sie hatten ihn nicht entdeckt. Er beobachtete, wie Bruhns’ schwarzer Schatten über das grasnarbenlose Pflaster glitt und gleich darauf mit seinem Herrn im Betonbauch der Garage verschwand. Auch die anderen beiden kannte Frederic: Es waren die Mathe-Ziesel und Fyscher, der Sport und Physik gab. Als Fyscher sich einmal umdrehte, um mit der Ziesel zu sprechen, sah Frederic, dass er eine riesige Zunge besaß, wie die Zunge eines großen, hechelnden Hundes. Er musste sie mehrmals einrollen, um sie in seinem Mund unterzubringen. Aus einem seiner Mundwinkel rann ein Speichelfaden. Frederic erinnerte sich an viele Stunden, in denen Fyscher sie um den Sportplatz gejagt hatte, Runde um Runde, während er selbst mit seiner Trillerpfeife am Rand stand und sie zufrieden beobachtete. Was leckte er auf mit seiner riesigen Zunge? Den Schweiß ihrer Erschöpfung? Ihre Angst, der Letzte zu sein? Frederic schauderte. In diesem Augenblick rollte etwas Großes, Dunkles, Unförmiges aus der Garage und er vergaß seine Gedanken an Fyschers gierige Zunge.
    »Sie ist startklar«, hörte er Bruhns flüstern, der gleich darauf hinter dem unförmigen Gebilde auftauchte. Das Licht einer Taschenlampe wanderte über den Gegenstand, und Frederic kniff die Augen zusammen.
    Es war eine Maschine. Eine riesige Maschine, bestehend aus Schläuchen, Schaltern, Rädern, Stahlbändern, Metallfedern und – Saugnäpfen. Frederic sah ihre einzelnen polierten Teile im schwachen Licht der Taschenlampe glänzen. Die Straßenlaternen in der Johann-Wolfgang-von-Schiller-Straße schienen allesamt hinüber zu sein. Oder hatte jemand nachgeholfen? Er wünschte, er hätte aufstehen und näher treten können. Die Maschine von allen Seiten begutachten, ihre Metallflanken berühren,

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