Nacht der gefangenen Träume
Augen … Verdammt, er wusste noch nicht einmal, wie man jemandem seine Träume zurückgab! Beim Frühstück packten ihn zwischen zwei Schlucken Tee Zweifel: War es überhaupt möglich? Oder brauchte man die Maschine, um die Träume zurückzupumpen?
»Keinen Hunger?«, fragte Hendrik. Frederic tauchte aus seinen Gedanken auf wie aus einer besonders tiefen Art von Tiefsee und starrte das Brötchen auf seinem Frühstücksbrett an. Offenbar hatte er es mit Marmelade beschmiert, aber nicht angerührt.
Er schüttelte den Kopf. »Ich nehm es mit auf den Schulweg«, sagte er. »Ich komme sonst zu spät.«
Es klang weder eilig noch überzeugend. Hendrik warf ihm einen zweifelnden Blick zu. Doch Frederic ging einfach.
Als er dann am Abrisshaus vorüberkam, war der Mülltonnenlehrer im Hof dabei, den Tonnen das Futur II beizubringen, während auf seiner Schulter das winzige Sandmännchen gähnte.
»Ich werde gesehen haben, du wirst gesehen haben, er wird gesehen haben: videro, videris, viderit.«
Die Tonnen antworteten nicht, sie waren nur Tonnen, wie immer. Frederic schlüpfte durch die Mauerlücke, öffnete die nächste Tonne und steckte ihr das Marmeladenbrötchen ins leblose metallene Maul, das sich mit einem Klicken wieder schloss. Der Mülltonnenlehrer drehte sich erschrocken um.
»Keine Angst.« Frederic lächelte. »Ich verrate Sie nicht. Wir haben alle unsere verrückten Angewohnheiten.«
Er sah sich im Hof um, dessen Pflaster von Moos und Gras überwachsen war. Zersplitterte Blumentöpfe lagen in den Ecken, und die Fenster, die auf den Hof hinaussahen, waren zerbrochen und blind. Dahinter schien es in der Dunkelheit zu wispern.
»Ist Ihnen nicht unheimlich zwischen diesen alten Mauern?«, fragte er den Mülltonnenlehrer.
»Doch, manchmal«, gab der Mülltonnenlehrer zu. »Das Unglück hängt in den Wänden des Hauses. An Regentagen kann man es fühlen.«
»Stimmt es, dass es hier spukt?«
Der Mann zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht an Geister.«
»Aber … Sie glauben daran, dass man Tonnen Latein lehren kann.«
»Das ist etwas anderes. Geister sind nur eine Ausrede. Eine Ausrede für das Vergangene, das man nicht loswird.« Er wandte sich wieder den Tonnen zu: »Was heißt: Er wird unglücklich gewesen sein?«
Die Tonnen antworteten noch immer nicht.
»Störrische Biester!«, schimpfte der Mülltonnenlehrer. Doch da war Frederic schon zurück auf den Weg geschlüpft, weg von dem Unglück, das im Abrisshaus in den Wänden hing. Es hatte nichts mit seiner Geschichte zu tun.
Dachte er.
Als Frederic kurz darauf durch das Portal mit den pausbäckigen Engeln ging, wurden seine Hände feucht vor Aufregung. Hatte Bruhns gemerkt, dass jemand die Träume zurückgestohlen hatte? Oder glaubte er, sie wären aus der Maschine herausgefallen? Er musste die Träume loswerden, ehe Bruhns ihn verdächtigen konnte. Er musste Änna beiseitenehmen und sie fragen, ob sie an diesem Nachmittag zu Hause sei … ein Mädchen fragen, ob es nachmittags zu Hause sei?
»Reiß dich zusammen«, sagte Frederic laut zu sich selbst, »das ist nun wirklich zurzeit dein kleinstes Problem.«
Aber er kam nicht dazu, Änna zu fragen. Änna war nicht mehr da. Das hieß: Rein äußerlich war Änna natürlich da. Sie saß auf ihrem Platz ganz hinten am Fenster und sah hinaus. Aber als Frederic sich umdrehte und ihren Blick suchte, waren ihre Augen so leer, als hätte jemand alles dahinter ausgewischt. In der Pausenhalle hingen jetzt die Bilder von den Karotten und den Lehrern. Frederics Bild hatten sie nicht aufgehängt. Aber in der Pause entdeckte er Ännas Bild. Änna stand gerade davor und runzelte die Stirn. Es war, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern.
»He, Änna«, sagte Frederic. Sie zuckte zusammen.
»Warum hast du die Flügel gemalt?«, fragte er leise.
»Flügel?« Sie sah ihn an, erstaunt. »Sind es … Flügel? Das Gelbe?«
»Ich glaube. Die Spitzen von Flügeln. Der Rest ist hinter Kahlhorsts Rücken verborgen. Wie bist du darauf gekommen?«
»Ich … weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß nur noch, dass ich etwas Gelbes gemalt habe. Es ist Unsinn. Menschen haben keine Flügel.«
»Vielleicht doch«, meinte Frederic.
Änna schüttelte langsam den Kopf. »Du redest komisches Zeug«, sagte sie und ließ ihn stehen.
Frederic hielt sie am Arm zurück, und er merkte, wie sie sich unter seiner Hand verspannte, ängstlich, auf der Hut.
»Du hast gesagt, du hättest gesehen, wie Josephine mich
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