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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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und rauchte.
    Jetzt! Frederic huschte gebückt hinüber, in den Schatten der Maschine, kniete sich vor sie und entfernte den Sack, den die Ziesel zuvor dort befestigt hatte. Eine Hand krallte er um die Öffnung, damit der kostbare Inhalt nicht entwich. Merkwürdig. Der Sack war leicht wie eine Seifenblase.
    Frederic blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Er stülpte die Stofftasche über den Sack, gab die Öffnung frei, spürte, wie etwas von dem Sack in die Tasche floss – oder flatterte oder kugelte –, und band die Tasche zu. Ein kleiner Teil des Fließenden, Flatterigen, Kugelnden entwich in die Luft, stieg auf und war verschwunden wie Seifenblasen, wie Pusteblumensamen, wie ein Windhauch. Aber das meiste hatte er retten können. Es schien sich in der Stofftasche zu regen.
    Frederic baute den Sack wieder in die Maschine ein. Es war nicht schwer, ein wenig wie bei einem Staubsauger. Im Dunkeln sah man nicht, wie verräterisch leer der Sack war, außer man war schlau und prüfte es mit der Hand. So wie Bork Bruhns es bei einem gewissen Schlauch voller Vanillepudding getan hatte.
    An einem Freitag um halb ein Uhr nachts setzte sich eine Maschine mit drei Gestalten an Bord in Bewegung und verließ den Hinterhof der Familie Blumenthal, in ihrem Bauch zwanzig ausfahrbare Stufen.
    An einem Freitag um halb ein Uhr nachts drehte sich Änna Blumenthal in ihrem Bett vom Rücken zurück auf den Bauch.
    An einem Freitag um halb ein Uhr nachts glaubte ein gewisser Direktor Bruhns, mit einem Sack voll gefährlichem Sondermüll nach Hause zurückzukehren, der dringend bald entsorgt werden musste. Doch er täuschte sich. Der Sack in den metallenen Klammerfingern seiner Maschine war leer.
    An einem Freitag um ein Uhr nachts kroch ein dreizehnjähriger Junge erschöpft in sein Bett. Und als er einschlief, ruhte sein Kopf auf einer Stofftasche voller Träume. Die Tasche hätte vermutlich unter der Decke geschwebt, hätte er nicht darauf gelegen. Der Junge wusste nicht, wovon die Träume handelten. Sie gehörten ihm nicht.
    Er würde sie zurückgeben.
    Und das war erst der Anfang.

4. Kapitel
    Sie warten
    »Hat Hendrik eigentlich gemerkt, dass ich nachts weg war?«
    »Vielleicht schon.«
    »Das dachte ich mir. Aber er hat nichts gesagt.«
    »Hast du dir gewünscht, er hätte etwas gesagt? Irgendwann in der Geschichte?«
    »In manchen Momenten, ja. Wenn ich nicht wusste, was ich tun sollte. Oder ob es richtig war, was ich tat. Manchmal habe ich mir sogar gewünscht, er würde auf den Tisch hauen und alles verbieten, und die ganze Sache wäre auf einen Schlag zu Ende. Es wäre so einfach gewesen. Ich hätte keine Angst mehr haben und nicht mehr mutig sein müssen und …«
    Er kaut schon wieder an seiner Unterlippe. Diese Unterlippe muss einiges aushalten. Na ja, denke ich, sie ist es wohl gewohnt.
    »Andererseits wären dann auch die schönen Dinge nicht passiert. Und zum Schluss …«
    »He!«, sage ich. »Du hast gesagt, ich darf nichts verraten. Dann darfst du aber auch nichts verraten!«
    »Ach so. Ich hatte ganz vergessen, dass jemand liest, was ich sage. Schreibst du jetzt weiter?«
    »Na klar.«
    Der Spiegel zeigte Frederic am nächsten Tag dicke Augenringe. Er hielt sein Gesicht unter den Wasserhahn, aber auch das kalte Wasser änderte nichts: Auf seinen Zügen lag der Schatten einer riesigen Maschine voller Schläuche und Saugnäpfe, Kabel und Knöpfe. Für eine Weile versuchte er, sich einzureden, er hätte dies alles nicht wirklich erlebt. Doch dann fiel sein Blick auf die Stofftasche, die unter seinem Kopfkissen hervorgeglitten war und nun an der Zimmerdecke schwebte. Es war wahr.
    Nicht er hatte geträumt. Änna hatte geträumt. Und was sie geträumt hatte – nein, ihr ganzer Kopfvorrat an weiteren Träumen –, befand sich in dieser Stofftasche.
    Frederic kletterte auf seinen Schreibtisch und fischte die zugeknotete Tasche aus der Luft. Eine Weile drehte er sie in den Händen. Etwas raschelte darin, ganz zaghaft und leise, wie Blütenblätter oder Vogelgefieder. Einen Moment erwog er, die Tasche in seinen Schulrucksack zu stopfen. Aber es war zu gefährlich. Frederic würde bis zum Nachmittag warten müssen. Er steckte die Tasche in den Kleiderschrank, zwischen seine T-Shirts. Er würde auf sein Fahrrad steigen und zurück zu Ännas Haus fahren. Und dann würde er ihr die Träume wiedergeben.
    Was sie wohl sagen würde? Würde sie sich freuen? Er stellte sich ihr schmales Gesicht vor, ihre stets besorgten

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