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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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gebissen hat«, flüsterte er eindringlich. »In der Deutscharbeit am Montag. Weißt du das noch?«
    »Du spinnst«, flüsterte Änna. »Wieso sollte sie dich beißen?«
    Sie schlüpfte aus seinem Griff und verschwand im Gedränge. Frederic sah sich um. Er drohte in dem Meer aus ideenlosen, traumlosen Gesichtern zu ertrinken, die an ihm vorbeifluteten. Zum ersten Mal stellte er sich die Frage: Warum nicht auch ich? Warum hat Bruhns meine Träume nie gestohlen? Denn dass er das nicht getan hatte, war klar. Die Träume, so hatte Bruhns selbst in jener Nacht gesagt, sind der Nährboden für eigene Ideen. Und Frederics Kopf war bis zum Rand voll mit Ideen.
    In der letzten Stunde schrieben sie eine Lateinarbeit, die offenbar vorverlegt worden war. Aber da Claudius nur in Fischblasen sprach, hatte Frederic das nicht mitbekommen. Er übersetzte lauter Dinge, die keinen Sinn ergaben (»Herkules wird den Beamten beleuchten« – was zum Teufel tat Herkules mit einem Beamten? Und warum hatte er »einen kleinen Knochen im Gesicht …«?), und gab ein beinahe weißes Blatt ab. Bruhns sah er den ganzen Tag über nicht. Vielleicht saß er zu Hause und suchte in den geheimnisvollen Kanälen der Maschine nach den verloren gegangenen Träumen?
    Nach der Schule folgte Frederic Änna, um sie endlich zu fragen, ob sie nachmittags zu Hause sein würde. Leider verwickelte Josephine ihn in ein Gespräch über lateinische Verben, das er abwechselnd mit »unregelmäßig« und »Konjunktiv« beantwortete, ohne ihr zuzuhören. Und so holte er Änna erst kurz hinter dem Schultor ein. Sie war gerade dabei, in ein Auto zu steigen. Hinten in dem Auto türmten sich Koffer und Taschen.
    »Änna …«, begann Frederic und merkte, dass er sie schon wieder am Arm festhielt. Es wurde ihm offenbar zur Gewohnheit, sie am Arm festzuhalten. Änna wurde es zur Gewohnheit, ihm den Arm zu entwinden.
    » Was denn?«, fragte sie, schon halb versunken in den Rücksitz des Autos.
    »Fahrt ihr weg?«
    »Übers Wochenende. Verwandtenbesuch«, antwortete sie.
    »Wer ist denn der junge Herr?«, fragte Ännas Vater vom Fahrersitz.
    »Willst du ihn uns nicht vorstellen?«, fragte ihre Mutter vom Beifahrersitz.
    »Nein«, sagte Änna leise, aber bestimmt. »Frederic. Ich würde jetzt gerne die Autotür schließen.«
    »Aber …«, sagte Frederic. Aber was? Was wollte er ihr sagen? Du kannst jetzt nicht wegfahren, ich habe deine Träume bei mir zu Hause im Kleiderschrank?
    Er seufzte und trat einen Schritt zurück. Die Autotür fiel mit einem Krachen ins Schloss. Frederic murmelte ein sinnbefreites »Viel Spaß dann noch« und sah zu, wie Ännas Vater das Auto wendete. Als er einen Blick auf sein Gesicht erhaschte, erschrak Frederic. Er hatte die Augen fest geschlossen. Genau wie seine Frau. Sorglos. So fuhren Ännas Eltern zu ihrem Verwandtenbesuch, fröhlich, lächelnd und blind für das, was zählte. Und hinten im Auto saß ihre Tochter und hatte keine Träume mehr.
    Als Frederic nach Hause kam, raschelte es im Kleiderschrank. Er nahm die Stofftasche heraus und betrachtete sie lange. Wie konnten die Träume eines Menschen nur alle in eine Stofftasche passen? Mussten sie dazu nicht unendlich dicht zusammengepresst sein? Beinahe war ihm, als könnte er spüren, wie die Nähte der Tasche knackten und sie sich dehnte, mit jeder Minute mehr. Hoffentlich platzte die Tasche nicht irgendwann.
    Dieses Wochenende wurde das längste, das Frederic je erlebt hatte. Die Minuten krochen auf schweren Füßen vorbei und schienen Frederic zu verhöhnen. Es regnete ununterbrochen.
    An Regentagen, hatte der Tonnenlehrer gesagt, kann man das Unglück in den Wänden des Abrisshauses fühlen …
    Am Samstagvormittag ließ Frederic die Tasche für eine Stunde aus den Augen, um zurück zu Bruhns’ Haus zu fahren. Bruhns putzte in der Garage sein sauberes Auto. Von der Maschine keine Spur. Wäre die Stofftasche nicht gewesen, Frederic hätte schließlich doch geglaubt, er hätte sich das Ganze eingebildet.
    Am Sonntagmorgen schließlich begann etwas, aus der Tasche herauszuwachsen. Es schob sich durch die engen Maschen im Stoff – etwas wie dünne Fäden. Am Sonntagnachmittag sah Frederic, dass es Wurzeln waren. Er rupfte die Tasche jetzt alle halbe Stunde vom Schreibtisch, wo sie versuchte, festzuwachsen. Zwei der Wurzeln krochen in einem unbeobachteten Moment über den Fußboden, unter Frederics Zimmertür hindurch und ins Bad.
    Er erwischte sie dabei, wie sie den Wasserhahn öffneten

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