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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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und gierig tranken. Von da an goss er die Tasche ab und zu. Er traute sich nicht, die Wurzeln einfach abzuschneiden, denn er wollte Ännas Träume nicht verletzen. Hätte er nur gewusst, ob es gute oder böse Träume waren! Vermutlich brauchte sie auch die bösen.
    In der Nacht zum Montag legte Frederic die Tasche zurück in den Kleiderschrank, den er zu diesem Zweck freigeräumt hatte. Doch er stellte sich seinen Wecker und zupfte einmal pro Stunde alle Fadenwurzeln aus dem Holz des Schrankfachs.
    Am Morgen grinste ihn aus dem Spiegel die gleiche übermüdete Fratze an wie schon am Freitag. Und Frederic war beinahe ein bisschen böse auf Änna. Es wurde höchste Zeit, dass er ihre Träume loswurde. Wie sollte er jemals mehr über Bork Bruhns und seine Maschine herausfinden, wenn er ständig auf eine blöde Stofftasche aufpassen musste, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, bei ihm Wurzeln zu schlagen?
    »Ich bin doch nicht das Kindermädchen für anderer Leute Träume«, knurrte er und steckte die Stofftasche ganz unten in seinen Schulrucksack. Es war gefährlich. Es war dumm. Aber es war notwendig. Er würde versuchen, Änna die Tasche irgendwann an diesem Vormittag zurückzugeben.
    Claudius sprach in Blasen vom Ergebnis der Lateinarbeit. Frederic sah aus dem Fenster. Er bekam eine Fünf, und Claudius blubberte ihm vorwurfsvoll ins Gesicht. Frederic nickte höflich, ohne ein Wort zu verstehen. In Claudius’ Karpfenbart hatten sich einige Algen verfangen – vielleicht Überreste seines Frühstücks. Josephine wedelte mit einer Eins, und als sie nach dem Pausenklingeln an Frederic vorüberging, streckte sie blitzschnell ihre Maulfinger aus und biss ihn mit zwei von ihnen in die linke Schulter. Frederic drehte sich genauso schnell um und wollte ihr seine Faust in den Magen rammen. Doch dann ließ er es. Er schenkte ihr ein breites Lächeln, sah die Verwirrung in ihrem Gesicht und beglückwünschte sich innerlich. Ein gutes Zeichen. Und verdammt noch mal, er konnte eines gebrauchen.
    Er krallte seine Finger in die Plastiktüte, in die er die Stofftasche gepackt hatte, damit niemand ihre Wurzeln sah, und folgte Änna aus dem Klassenzimmer. Sie schleifte ihre Eisenkette den Flur entlang zur Toilette und Frederic triumphierte.
    Während er wartete, gingen die letzten Schüler und Lehrer durch den Flur, und schließlich war er leer – leer bis auf Frederic und eine Tasche voller zusammengedrängter Träume ( »komprimiert« , hätte Bruhns gesagt).
    Die Stimmen der anderen quollen durch ein gekipptes Fenster vom Hof herauf. Er sah die vertrauten Fingerblätter der Kastanie im Wind schaukeln. Seine Hände schwitzten.
    Und dann öffnete sich die Tür zum Mädchenklo und Änna trat heraus. Sie sah ihn sofort. Und in ihren grauen Augen blitzte die Furcht auf. Sie wollte an ihm vorbeischlüpfen, doch er versperrte ihr den Weg. Was dachte sie in diesem Moment?
    Die Furcht in ihren Augen wuchs, und es war, als griffe sie nach ihm.
    »Was willst du?«, fragte Änna mit ganz kleiner Stimme. Sie sah sich um. Es war niemand da, der ihr Frederic vom Leib halten konnte.
    »Ich muss mit dir reden«, sagte Frederic. »Es ist wichtig. Aber nicht hier.«
    »Lass mich vorbei.«
    »Nein.«
    Er packte ihr Handgelenk. Er war stärker als sie. Es war ihm zuwider, sie festzuhalten. Er schleifte sie halb den Flur entlang, führte sie die schmalen Hintertreppen hinunter, tiefer, tiefer, bis in den Keller, wo sie nur einmal die Woche Werken hatte. Modrige, abgestandene Luft empfing sie. Frederic fand einen Lichtschalter, und eine fahle Neonröhre flackerte an der Wand auf.
    »Ich schreie«, sagte Änna. »Wenn …«
    »Wenn was?«, flüsterte er. »Was glaubst du, habe ich vor?« Er schüttelte den Kopf, verzweifelt. »Bitte, bleib!«
    Er musste sie loslassen. Er brauchte beide Hände, um die Stofftasche zu entknoten. Seine Augen suchten in den ihren etwas hinter der Wand aus Furcht. Er gab Änna frei und sie machte einen Schritt rückwärts. Jetzt wird sie wegrennen, dachte er. Aber sie blieb stehen und beobachtete, wie er die Stofftasche aus der Plastiktüte nahm, wie er sich an dem Knoten zu schaffen machte.
    »Was wird geschehen, wenn du sie öffnest?«, flüsterte sie.
    »Ich weiß es nicht«, antwortete er ehrlich.
    Und dann glitt der Knoten auseinander, und –
    »Was ist das?«, hörte er Änna fragen. Er konnte sie nicht mehr sehen. Etwas floss, glitt, flatterte an ihm vorüber, füllte die Luft, schloss das kranke Neonlicht aus,

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