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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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schloss überhaupt alles aus. Es war, als stünden sie in einer Schneekugel. Und dann legte sich der Schneekugelschnee. Doch es war kein Schnee, in dem Frederic und Änna standen. Es war eine unendlich weite Blumenwiese. Ihre hüfthohen Blüten ergossen sich überschäumend bis an die Wände des breiten Kellergangs und ließen nichts von seinem kalten Steinboden übrig. Zuerst dachte Frederic, es wäre ein Feld voller Sonnenblumen, doch als er genauer hinsah, merkte er, dass die Blüten nicht aus Blütenblättern bestanden, sondern aus gelben Federn. In ihrer Mitte lagen Zentren aus glänzendem Spiegelglas. Frederic beugte sich über eine der Blumen und sah sich selbst und Änna darin. Auf Ännas Spiegelgesicht lag ein zaghaftes, ungläubiges Lächeln.
    »Das – das war alles in meinem Traum neulich«, flüsterte sie. »Ich hatte es vergessen, aber jetzt erinnere ich mich.«
    Frederic nickte. »Du hattest es nicht vergessen«, sagte er. »Jemand hat den Traum gestohlen. Ihn und eine ganze Menge andere.«
    »Andere Träume?« Änna sah sich um. Hier und da tauchten aus dem hohen Blumenfeld Wesen und Gegenstände auf, um gleich wieder darin zu verschwinden: Frederic sah für Bruchteile von Sekunden die Ohren eines himmelblauen Kaninchens, den Kopf von Ännas Mutter mit einem unsinnig breiten Hut aus liniertem Schulpapier, eine überdimensionale Flasche, die der seinen mit dem Vitamin-A-Extrakt erstaunlich ähnlich sah …
    »Von diesen Dingen habe ich noch nicht geträumt«, sagte Änna. »Vielleicht träume ich später von ihnen.«
    Frederic nickte. »Die Blumen sehen aus wie die Flügel auf deinem Lehrerbild. Woher weißt du, dass Kahlhorst Flügel hat?«
    »Hat er welche?« Sie sah ihn an, nachdenklich. »Ich hab es irgendwie gespürt«, antwortete sie nach einer Weile. Dann wandte sie sich wieder dem Feld zu. »Woher kommen all die kahlen Flecke?«, fragte sie. »Sie sehen irgendwie verbrannt aus. Davon habe ich nicht geträumt.«
    »Vielleicht«, sagte Frederic, »kommen sie von der Maschine. Möglicherweise macht sie die Träume an manchen Stellen kaputt, wenn sie zu nahe an ihrem glühenden Motor vorbeigepumpt werden.«
    »Welche Maschine?«, fragte Änna. Ihre Stimme klang, als spräche sie im Traum. Bei diesem Gedanken fiel Frederic wieder ein, weshalb sie eigentlich hier waren.
    »Du musst das alles wieder an dich nehmen«, sagte er, ohne ihre Frage zu beantworten. »Ehe die Pause vorbei ist. Ehe jemand uns hier unten findet. Ich weiß zwar nicht, wie …«
    Änna ließ ihren Blick über das Feld aus gelben Blumen schweifen. Es wuchsen nicht nur gelb gefiederte Sonnenblumen um sie herum, sondern auch Sonnenuhren an langen Stielen. Frederic sah die Schatten ihrer Zeiger wandern, obgleich es hier im Keller keine Sonne gab.
    »Sie wandern zu schnell«, flüsterte Änna. »Vielleicht wollen sie sagen: Die Zeit drängt. Warum, Frederic?«
    Er zuckte mit den Schultern, abermals ratlos, und in diesem Moment begann das Blumenfeld, ganz von selbst in Änna hineinzufließen. Es wurde zusammengerafft wie eine Tischdecke, an deren Ecken jemand zieht, und verschwand in ihren Augen. Sie sah das Feld in sich hinein wie ein Staubsauger, mitsamt den darin verborgenen Wesen, die noch geträumt werden sollten. Frederic vergaß vor Verblüffung sogar, den Kopf zu schütteln.
    Sekunden später war der Keller wieder leer und das kranke Neonlicht setzte sich zurück auf die Wände wie ein schleimiger Belag. Zu Frederics Füßen lag die leere Stofftasche. Er sah Änna an, die noch immer neben ihm stand. Ihre Augen hatten sich verändert. Da war wieder dieses geheime Leuchten in ihnen.
    »Frederic«, wisperte sie. »Was …? Habe ich das eben geträumt? Die Sonnenblumen voller Federn? Die Uhren?«
    »Ja«, sagte er. »Ja, das hast du wohl geträumt.«
    In diesem Augenblick – oder war es ein Ohrenhör? – klingelte die Schulglocke den Tod der Pause ein. Frederic legte eine Hand auf Ännas Schulter; ganz kurz, ganz leicht.
    »Tu so«, wisperte er, »als hättest du die Träume nicht zurückbekommen. Tu so, als hättest du keine einzige eigene Idee in deinem Kopf. Widersprich keinem.«
    »Ich verstehe nicht. Wer hat sie mir weggenommen? Und was haben die Träume mit den Ideen zu tun?«
    »Alles«, antwortete Frederic. »Ich erkläre es dir, wenn ich es selbst komplett verstanden habe.«
    Als Frederic und Änna sich längst wieder auf der Treppe befanden, gingen hallende Schritte durch die Reste des zeitgeschalteten Neonlichts

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