Nacht der gefangenen Träume
dich allein gehen lasse, gerätst du wieder in irgendwelche Schwierigkeit. Nebel oder eine Prügelei oder …«
Er nahm ihre Hand. Moment, dachte er, als er ihre Finger zwischen den seinen spürte. Sie ist ein Mädchen. Ich kenne sie nicht einmal richtig. Ich kann nicht einfach ihre Hand … ich sollte sie loslassen. Der Ärmel des kratzigen Pullovers, den seine Mutter vor so langer Zeit gestrickt hatte, rieb an seinem Handballen. Halt sie ruhig fest, sagte der Pullover lautlos. Als wäre Anna trotz allem noch immer hier. Anna, die fast so hieß wie Änna.
»Es ist – ähm – besser so«, sagte Frederic rasch, seine Stimme etwas rauer als sonst. »Damit wir uns – ähm – nicht verlieren, falls wir wieder in diesen Qualm geraten.«
Änna nickte.
Und so gingen sie über das kahle, vertrocknete Grasfeld auf die Halle zu, Hand in Hand wie ein Pärchen aus Hollywood. Aber sie waren kein Pärchen und diese Nacht hatte nichts Romantisches an sich. Was ihre Hände zusammenhielt, war die Furcht, und die hält besser als Sekundenkleber.
Die Fabrikhalle starrte still und verlassen in die Nacht. Im Gras lag als eckige dunkle Form der Eingang zu dem Schacht, in den Frederic letztes Mal beinahe hineingefallen wäre. Das Licht des Mondes erreichte seinen Grund nicht. Aber von dort, aus der Tiefe, drang etwas herauf – keine Stimmen diesmal, kein Qualm. Auch kein Geruch. Eher ein Gefühl. Es quoll an die Erdoberfläche und wand sich durchs Gras, unsichtbar, unerklärlich und unangenehm.
»Was, glaubst du, ist dort?«, wisperte Änna.
Frederic schüttelte den Kopf.
»Nichts Gutes«, flüsterte er.
»Hast du wirklich die Ziesel und den Fyscher …?«
»Gehört? Ja. Komm weiter.«
Sie umrundeten das schwarze Viereck, als wäre es ein bissiges Raubtier, und erreichten die Tür, durch die Frederic den alten Mann hatte gehen sehen. Das Zischeln und Wispern hinter ihr war verstummt. Frederic holte den Dietrich aus der Tasche, der in seinem letzten Leben ein Dosenöffner gewesen war, und steckte ihn vorsichtig ins Schlüsselloch, drehte, schob, drehte … die Tür gab ein winziges Knacken von sich und sprang auf. Das Mondlicht fiel schräg in die entstandene Öffnung: Es beleuchtete einen breiten Gang, der die Fabrikhalle längs in zwei Teile teilte. Zur Linken und Rechten des Gangs ragten hohe Wände auf. Sie blieben in der offenen Tür stehen und lauschten. Noch immer war nichts zu hören. Frederic trat einen Schritt vor, hinein in den Gang, und Änna folgte ihm. Hinter ihnen fiel die Tür leise ins Schloss.
»Keine Sorge«, wisperte Frederic. »Wir haben den Dietrich. Und er hat noch eine Funktion.« Er drehte diesen besonderen Dietrich um, betätigte einen kleinen Schiebeknopf, und eine winzige Glühbirne begann bläuliches Licht zu verströmen. Frederic hatte vor Langem eine Taschenlampenbirne eingebaut. Jetzt fiel der Schein des besonderen Dietrichs auf die Wände des Gangs, und da sahen sie, dass es keine Wände waren. Es waren Gitter; Gitter, die vom Boden bis unter die Decke der alten Lagerhalle reichten. Und in der Lagerhalle stand keine Traum-abpump-Maschine.
Sie war ausgefüllt mit Käfigen.
Reihen von Käfigzellen, Wand an Wand, übereinandergetürmt wie die Vogelvolieren eines wahnsinnigen Zoos. Was sich jedoch an den stabilen Drahtmaschen und unter den Decken der Käfige festkrallte, waren keine Vögel. Jedenfalls keine, die Frederic kannte. Es waren kleine dunkle Knäuel, die sich mit etwas am Draht festhielten, das bei manchen der Wesen Krallen oder Händen glich, bei manchen auch eher Fäden, winzigen Ästchen oder Heftklammerenden. Frederic legte den Kopf zurück und sah zu den Knäueln empor. Sie schienen die Höhe zu bevorzugen. Die Bodenplatten der Käfige waren leer. Und hielten sich die dort oben überhaupt fest? Oder schwebten sie unter den Drahtdecken ihrer Gefängnisse?
Hölzerne Stege liefen über ihnen zu beiden Seiten außen an den Käfigen entlang; dort oben entfaltete sich eine Welt wie ein Baugerüst, genauso irrwitzig zusammengebastelt wie die Volieren. Hier und da gab es Leitern und Strickleitern, doch es schien ein waghalsiges Unterfangen, dort hinaufzuklettern.
Frederic und Änna gingen zwischen den Gittern entlang, den Blick auf die dunklen Knäuel gerichtet. Es war unmöglich, zu erkennen, was sie darstellen sollten. Ob sie überhaupt etwas darstellen sollten. Manche von ihnen bewegten sich ab und zu. Sie atmeten. Sie lebten.
Und dann sah Frederic, wie sich aus einem der
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