Nacht der gefangenen Träume
Stunden später steckte Frederic in dem geerbten Pullover von Anna und lauschte auf die gleichmäßigen Atemzüge aus Hendriks Schlafzimmer.
Das Treppenhaus roch nach Nachtstaub. Frederic war immer noch etwas unsicher auf den Beinen. Sein Kopf schmerzte, und der Boden hob und senkte sich, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Auf dem ersten Treppenabsatz hockte eine gekrümmte Gestalt, und Frederic erschrak. Waren das Schnurrhaare, die dort in der Finsternis zitterten?
»Ich sehe, du bist schon mittendrin«, wisperte die alte Dame aus dem zweiten Stock. Den Rattenschwanz hatte sie ordentlich neben ihren Füßen eingekringelt.
»Was ist in dem Paket?«, flüsterte Frederic. »Wo ist Bruhns’ Maschine? Was geschieht in der letzten Nacht der Träume?«
Die alte Dame reagierte mit einem trockenen Kichern.
»Eine geballte Ladung Fragen, junger Mann«, zischte sie. »Keine Antworten von mir. Hab dir schon die Augen geöffnet. Kann nicht mehr tun. Wer stark werden will, muss selbst die Rätsel lösen, die auf seinem Weg liegen.«
»Sehr philosophisch«, knurrte Frederic und zerrte sein Fahrrad aus dem Keller auf die Straße. Die alte Dame sah ihm dabei zu. Ihre kleinen Augen glühten im Dunkeln wie die Reflektoren in seinen Speichen.
»Grüß mir den Wächter«, flüsterte sie, als er aufs Fahrrad stieg.
Doch das hörte Frederic nicht mehr. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, das Gleichgewicht auf dem Fahrrad zu halten. Der Asphalt unter ihm buckelte wie ein wildes Pferd. Frederic biss die Zähne zusammen und fluchte sich durch die Nacht. Er hätte zurück ins Bett gehen sollen. Er war verrückt. Änna hatte recht.
Als er bei den Blumenthals ankam, lehnte Änna an der Wand neben ihrem Fahrrad. »Warum müssen wir unbedingt jetzt noch dort hinaus?«, flüsterte sie. »Hätten wir nicht bis morgen warten können?«
Frederic schüttelte stumm den Kopf.
Änna stieg auf ihr Rad, und zu zweit fuhren sie wieder los. Jetzt war der Boden still. In den Ritzen zwischen den Häusern hing ein wortloser Mond. Die Stadt hatte wieder ihr Nachtgesicht aufgesetzt, doch mit Änna neben sich erschien es Frederic weniger bedrohlich, weniger unheimlich, weniger gefährlich. Ein mondsüchtiger Hund heulte kurzsichtig einen Feuerlöscher an. In den Hauseingängen lagen die Schlafsackkokons träumender Straßenbewohner.
»Was hast du vor?«, wisperte Änna.
»Die Maschine auseinanderbauen«, sagte Frederic. »Als ich sie in Bruhns’ Garage gesehen habe, hat er sie nur betankt oder poliert oder so. Sie steht sonst in der Fabrikhalle, jede Wette. Ich muss wissen, wie sie funktioniert. Und ich muss wissen, warum Bruhns nervös ist. Ich habe ihn belauscht, ihn und Sport-Fyscher. Irgendwo gibt es eine Schwachstelle in ihrem System, und wenn sie noch zwei Pakete kriegen, gibt es diese Schwachstelle nicht mehr. Vielleicht muss die Maschine repariert werden. Wenn wir sie rechtzeitig finden, dann …«
»Dann tun wir was?«
»Wir setzen die Maschine außer Kraft. Wir werfen Bruhns aus St. Isaac. Wir …«
»… retten die Welt?«, schlug Änna vor.
Verdammt, warum machte sie sich über ihn lustig? Er wollte sie anknurren, doch in diesem Moment waren sie vor der Mauer angekommen, die das alte Fabrikgelände von der Straße abtrennte. Sie versteckten ihre Räder hinter dem Skelett eines ausgebrannten Autos und schlüpften durch das angelehnte Tor, hinein in eine Nachtwelt aus knisterndem braunen Magergras und metallisch flüsternden Schrotthaufen. Der Mond strich mit seinem weißen Pinsel geheime Zeichen auf Wellblechplatten und alte Sessel.
»Frederic?«, wisperte Änna. Vor ihnen ragte die Fabrikhalle auf wie ein schwarzer Klotz aus verdichteter Bedrohlichkeit. »Willst du wirklich dort hineingehen?«
»Hast du Angst?«
»Es ist nur – bis vor Kurzem hätte ich so was nicht gemacht. Und jetzt spioniere ich plötzlich im Rektorat herum, durchsuche Bruhns’ Schränke nach Paketen und fahre nachts mit dem Fahrrad in einer Gegend herum, in die meine Eltern mich nicht mal bei Tag lassen würden. Ich meine, wir wissen nicht, wer oder was dort ist. Vielleicht lässt Bruhns die Halle bewachen, oder es gibt eine Alarmanlage und wir kriegen Ärger mit der Polizei.«
»Du musst das nicht«, sagte Frederic ernst. Es war schwer, ihr Gesicht im faserigen Mondlicht zu lesen. »Ich kann auch alleine weitergehen. Bisher habe ich immer alles alleine gemacht.«
Sie schien zu überlegen. »Nein«, wisperte sie. »Nein, ich komme mit. Wenn ich
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