Nacht der gefangenen Träume
französische Pralinenschachtel explodiert ist.«
Josephine streckte ihre Hand aus, doch diesmal reagierte er schnell genug und schob eine Seite des Schulbuchs zwischen die Zähne ihres Zeigefingers. Ein tiefer Zahnabdruck tauchte an der rechten unteren Ecke auf. Aus Josephines Kehle drang ein erstickter Laut der Überraschung, als sie den Abdruck sah. Sie wusste es wirklich nicht. Sie biss mit Genugtuung, aber sie wusste nichts davon. Frederic sah die ganze Stunde nicht aus dem Fenster, weil er Angst davor hatte, Josephine aus den Augen zu lassen. Die Frau war verrückt. Absolut über alle Grenzen hinaus wahnsinnig. Man müsste, dachte er, eine Maschine erfinden, die Handschuhe mit Maulkorb strickt.
In der Pause nahm ihn Kahlhorst beiseite. »Herr Direktor Bruhns will dich sprechen«, erklärte er und musterte Frederic besorgt. »Ist heute schon wieder etwas passiert?«
»Nicht dass ich wüsste«, antwortete Frederic und musterte seinerseits Kahlhorst. »Ihre Flügel sind ein Stück nachgewachsen«, sagte er.
»Meine … wie?«, fragte Kahlhorst.
»Ach, nichts.« Frederic lächelte. »Danke. Wegen gestern.«
Damit drehte er sich um und machte sich auf den Weg zum Rektorat. Bruhns wollte ihn sprechen? Das konnte er haben. Er war ihm dicht auf den Fersen. An diesem Morgen hatte er keine Angst vor HD Bruhns.
»Wir sind quitt«, sagte er leise, während er einen der endlosen kalten Flure von St. Isaac entlangging. »Ich schulde Ihnen – angeblich – einen Computer. Und Sie schulden mir ein Fahrrad.«
Im Sekretariat, das jeder auf dem Weg zum HD durchqueren musste wie eine Vorhölle, blubberte die Kaffeemaschine auf ihrem Bürostuhl so teilnahmslos vor sich hin wie immer. Das Parmafaulchen stank ein wenig auf dem Fensterbrett, und durchs Fenster sah man die gelben Birken aus dem Dachstuhl des Abrisshauses winken. Frederic dachte an die Bilder von dem Mann und dem Jungen im Matrosenanzug …
Wieder war keine Sekretärin zu sehen. Frederic klopfte an die Tür mit der Aufschrift »REKTORAT«.
»Herein«, schnarrte Bork Bruhns’ Stimme. Er saß hinter seinem Schreibtisch und hatte bis jetzt auf einer grünen Gummimaus herumgekaut. Wahrscheinlich, ohne es selbst zu bemerken. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf seinen Zähnen, die Frederic anstarrten wie zwei Reihen kampfbereiter Soldaten.
»Mir scheint«, begann Bruhns, »es gibt Leute in diesem Haus, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen. Mir scheint, ich habe das noch nicht deutlich genug gesagt.«
»Was werfen Sie mir vor?«, fragte Frederic.
Bruhns beugte sich über den Tisch und runzelte die Stirn. Frederics direkte Frage schien den HD etwas aus der Bahn zu werfen. Er konnte schlecht sagen: Ich habe dein Rad nachts bei einer alten Fabrikhalle gesehen. Oder: Es ärgert mich, dass wir deine Träume nicht kriegen. Also sagte er: »Man hat sich inzwischen mehrfach über dich beschwert. Die Leute aus deiner Klasse. Sie sagen, du lenkst sie ab. Außerdem sieht es nicht gut aus mit deinen Noten. Vielleicht ist ein Gymnasium nicht der richtige Ort für dich.«
»Ich werde mich von jetzt an anstrengen«, sagte Frederic. »Wegen der Noten.«
Und das würde er tun. Er musste noch ein Weilchen durchhalten. Nur ein Weilchen noch. Er musste tausend Dinge herausfinden: Wie er die Träume befreien konnte. Was in dem Schacht war. Warum Bruhns Angst vor ihm, Frederic, hatte. Wo die Maschine …
Bruhns unterbrach seine Gedanken. »Ich habe dich zu mir gerufen, weil ich dich warnen möchte«, erklärte er, seine Worte triefend vor falscher Freundlichkeit. »Es sieht so aus, als würdest du gewisse Leute mit in gewisse Dinge involvieren … äh … hineinziehen. Änna, um ein Exempel zu nennen, will sagen: zum Beispiel. Sie scheint dir sympathisch zu sein?«
»Ich kenne sie nicht mal näher«, knurrte Frederic. Doch er war kein guter Lügner.
Bruhns lachte leise. »Ganz wie du meinst. Aber du willst vermutlich nicht, dass sie auf St. Isaac ein so diffiziles, meine: schweres Leben hat wie du, nicht wahr? Es wäre besser, du benähmst dich in der nächsten Zeit kooperativ.«
»Was meinen Sie damit?«, fragte Frederic ärgerlich. »Was haben Sie vor?«
» Ich habe gar nichts vor.« Bruhns lächelte. Seine Zähne blinkten fröhlich wie frisch geschliffene Juwelen.
Frederic verließ das Rektorat, innerlich schnaubend vor Wut. Änna.
Bruhns hatte recht. Er hätte sie nicht mit hineinziehen sollen. Wer Freunde hat, ist verwundbar.
In der letzten
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