Nacht der gefangenen Träume
Stunde fegte ein kalter Herbstwind über den Sportplatz.
Fyscher leckte sich die Lippen, rollte dann die blutrünstige Zunge ein und pfiff in seine Trillerpfeife. »Aufstellen!«, befahl er. »Der Größe nach, wie immer! Wer fehlt?«
»Ich«, sagte Frederic.
Fyscher ignorierte ihn. »Ich muss mich heute um die Mädchen kümmern«, erklärte er, die Zunge wieder an den Lippen. »Frau Müller ist verhindert. Ihr spielt Fußball. Manuel, du übernimmst das Kommando.«
»Natürlich, Herr Fyscher«, sagte Manuel. Frederic wunderte sich beinahe, dass er nicht salutierte. Fyscher nahm seine Zunge mit hinüber auf die andere Seite des Sportplatzes, wo die Mädchen frierend im Herbstwind warteten.
Frederic sah, dass Änna ein wenig abseits stand. Das Mittagslicht glänzte auf ihrer Eisenkugel. Sport musste die Hölle für Änna sein. Und warum hatten die Mädchen heute Fyscher? War Frederic der Müller nicht vorhin noch auf der Treppe begegnet?
Jemand rempelte ihn an. »He, Frederic, träum nicht!«, sagte Manuel. »Wir fangen an zu spielen. Du bist in meiner Mannschaft. Nicht dass ich dich gewählt hätte. Aber du bist übrig geblieben. Du erinnerst dich, was ein Fußball ist?«
»In etwa«, antwortete Frederic. Kurz darauf trabte er mit den anderen über den giftgrünen Rasen, ohne zu wissen, wohin oder warum. Seine Gedanken waren nicht bei der Sache. Wo war eigentlich der Ball? Welches war ihr Tor?
»Mann, pass doch auf!«, rief der starke Georg. »Hast du Tomaten auf den Augen?«
»Karotten«, murmelte Frederic und dachte an Vitamin A.
Im nächsten Moment schubste jemand ihn, er rutschte aus, landete auf dem Boden und fand sich plötzlich in einem Gewirr von Armen und Beinen. Einen Augenblick lang bekam er Angst, dass die anderen wieder eine Prügelei anfangen würden. Er arbeitete sich panisch aus dem Chaos heraus, spürte dabei jeden einzelnen blauen Fleck vom Vortag und saß schließlich keuchend neben Georg und ein paar anderen im Gras.
»He«, sagte jemand. »Guckt mal, da drüben! Was machen die Mädchen da?«
»Akrobatik«, antwortete jemand anders. »Wow. So was hätte ich auch gern mal statt Sport. Vielleicht üben sie fürs Schulfest oder so.«
Frederic stand auf und sah hinüber. Tatsächlich. Eben waren die Mädchen dabei, auf der leeren Aschenbahn eine Pyramide zu bilden. Fyscher stand daneben und erteilte Befehle: Eine Reihe Mädchen kletterte auf die nächste wie bei einem Kartenhaus. Die Reihen wurden immer kürzer, der Weg hinauf immer mühsamer. Fernes Lachen schallte über die Wiese. Sie schienen viel Spaß zu haben dort, mit ihrem Kunststück. Warum übte Fyscher – gerade Fyscher – mit den Mädchen etwas ein, das Spaß machte? Warum hetzte er sie nicht wie gewöhnlich endlose Runden im Dauerlauf um den Sportplatz?
Frederic sah zu, wie die Pyramide höher und höher wurde. Josephine kniete als eines von zwei Mädchen in der obersten Reihe.
Sekunden später wurde ihm alles klar. Jemand fehlte noch auf der Pyramide: Änna.
Sie stand ganz allein vor den anderen und blickte am kompliziert verschachtelten Bau ihrer Körper empor. Frederic sah, wie Fyscher sich zu ihr hinunterbeugte und etwas sagte. Sie nickte, zögernd. Dann begann sie, über die Rücken der anderen hinaufzuklettern. Er sah, wie sie die Kugel an ihrem Knöchel mit sich zerrte, wie sie Mühe hatte, im Gleichgewicht zu bleiben, sah ihre ungeschickten Bewegungen; hörte das Lachen der anderen. Aber nun lachten sie nicht mehr, weil es ihnen Spaß machte, Akrobaten zu sein. Nun lachten sie über Änna.
Und Frederic verstand, warum die Akrobaten ihr Kunststück auf der Aschenbahn vollführten statt auf der Wiese. Auf der Wiese fiel man weicher …
»He, Frederic!«, brüllte Manuel. »Bleib hier! Du kannst nicht einfach abhauen! Wir sollen doch Fu…«
Frederics alte Sportschuhe trugen ihn über das Gras, so schnell wie noch nie. Der Sportplatz schien heute größer als sonst: eine Wüste aus blumenlosem, künstlich grünem Gras. Hinter sich hörte Frederic die anderen Jungen kichern. Er schnappte die Worte »Mädchen« und »verknallt« auf. Aber für solchen Kinderkram hatte er jetzt keine Zeit. Er musste sich durch eine Hecke zwängen, stolperte, fiel, kam wieder hoch. Als er bei der lebenden Pyramide ankam, hatte Änna ihre Spitze gerade erreicht. Frederic blieb keuchend stehen und blickte zu ihr empor.
»Du bist ganz schön schwer«, beklagte sich eines der Mädchen. »Ist mir bisher noch gar nicht aufgefallen, wie
Weitere Kostenlose Bücher