Nacht der gefangenen Träume
fett du bist!«
»Fett und ungelenk wie ein Elefant!«, rief ein anderes Mädchen kichernd.
Änna drehte sich um. Frederic sah, dass Tränen in ihren Augen standen.
»Na los, ganz nach oben!«, rief Fyscher. »Wir wollen eine richtige Pyramide, wie im Buch! An der Spitze zu sein, ist eine große Ehre!«
Änna kletterte jetzt auf Josephines Rücken. Tu es nicht!, wollte Frederic rufen. Komm wieder runter! Hör nicht auf sie! Das ist eine Falle! Doch sein Mund war trocken und er bekam kein Wort heraus, stand nur da und starrte. Josephine würde sich im falschen Moment bewegen, dachte er. Doch Josephine hielt still wie ein Stahlgerüst. Sie wartete, bis Änna oben war, mit einem Arm und einem Knie auf ihrem Rücken und dem anderen Knie auf dem ihrer Nachbarin. Fyscher klatschte laut und Frederic atmete schon auf, da hob Josephine, die mit ihrem Gleichgewicht offenbar keine Probleme hatte, eine Hand, und Frederic sah, wie ihre Finger Änna blitzschnell in den Arm bissen. Änna zuckte zusammen, taumelte – und fiel vorn über den Rand der Pyramide, ohne sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Frederic sprang vor, an Fyscher vorbei, sah Änna auf sich zurasen wie einen Meteoriten, und gleich darauf riss sie ihn mit zu Boden. Ein jäher Schmerz fuhr durch seinen linken Arm. Um ihn und Änna schwappten die Wogen eines Meeres von Gelächter empor. Bis Frederic sich aufgerichtet hatte, hatte die Pyramide sich aufgelöst: Die anderen Mädchen waren eines nach dem anderen wieder hinuntergeklettert, und nun standen sie nur noch da und lachten. Fyscher lachte mit ihnen, seine blutrünstige Zunge vibrierte dabei wie Wackelpudding.
»Alles okay?«, fragte Frederic leise. Änna nickte. »Mein Knöchel tut weh«, flüsterte sie. »Aber sonst ist alles okay.«
»Ist es nicht«, wisperte Frederic. Er sah, dass eine Träne über ihre Wange lief. Dann fühlte er sich unsanft hochgezerrt.
»Was machst du überhaupt hier?«, fragte Fyscher, der sich ebenfalls eine Träne aus dem Gesicht wischte. Eine Lachträne. »Bist du neuerdings ein Mädchen?«
Frederic verschränkte die Arme und sah in die Runde. Die Mädchen starrten ihn an und kicherten. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen – drehte sich dann aber schweigend um und ging über den Sportplatz davon. In seinem geprellten Arm pochte der Schmerz. Was sollte man zu diesen Leuten sagen?
Es gab nichts. Gar nichts.
Das also war es, was Bruhns tun würde, wenn Frederic sich nicht aus seinen Angelegenheiten heraushielt. Er würde Änna quälen. Tag für Tag. Änna zu quälen war leicht. Und eine dritte Träne floss auf dem Sportplatz – Frederic spürte sie in seinem eigenen Augenwinkel. Eine Träne der Wut.
Als Änna von ihren Eltern abgeholt wurde, saß Frederic auf dem großen, eckigen Stein mit der Aufschrift GYMNASIUM ST. ISAAC. Sie winkte, und er winkte zurück. Doch er blieb auf dem Stein sitzen, den ganzen Nachmittag lang, und grübelte.
Was sollte er tun? Aufgeben, damit Änna nichts geschah? St. Isaac verlassen? Oder bleiben und sich blind stellen? Eines Tages würde Bruhns vielleicht auch seine Träume holen, eines Tages, wenn er herausgefunden hatte, weshalb es ihm bisher nicht gelungen war. Dann, dachte Frederic, wäre alles einfacher. Dann müsste er sich nicht mehr sträuben, nicht mehr anders sein, keine Dinge mehr erfinden. Dann würde er nur noch gute Noten schreiben und bräuchte sich nie wieder Sorgen zu machen. Eine dunkelblaue Mischung aus Ärger und Trauer stieg in ihm auf. Die Bäume an der Mauer raschelten mit ihren Blättern wie immer, doch jetzt kam ihm das Geräusch vor wie der Inbegriff der Trostlosigkeit.
Es wurde Nachmittag. Es wurde Abend. Die Kirchturmuhren der Stadt schlugen Stunden, die Frederic nicht zählte. Als die Dämmerung kam, begann er zu frieren. Seine Finger suchten am Stein verbliebene Sonnenwärme, doch die glatte Oberfläche wies ihn ab, kalt und unnahbar.
Moment. Gab es da nicht eine Unebenheit im Stein, ganz unten an der Seite, eine Art Erhebung; einen Hubbel, nur so groß wie ein Knopf? Frederic tastete weiter und merkte, dass man den Hubbel herausziehen konnte. Ein Stück weit nur. Dann knirschte es unter ihm – und der Stein warf ihn ab. Er landete verblüfft auf dem Boden. Vor ihm lagen »ST.« und »ISAAC« auf getrennten Stücken. Sie waren einfach auseinandergeglitten.
Der Stein jedoch war hohl. Hohl wie eine Schublade. Und in seinem Inneren befand sich, platzsparend zusammengelegt wie ein Ikea-Regal, ein Ding mit
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