Nacht der gefangenen Träume
gegenseitig an – sprachlos, eingefroren, als wären auch sie nichts als ein Wasserfarbenbild hinter Glas.
Dann bewegte sich Bruhns und sprengte das Bild.
»Herr Lachmann«, sagte er. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«
Hendrik setzte sich auf den einen freien Stuhl. Er wartete auf eine Erklärung. Es war alles so absurd. Aber Bruhns erklärte nichts. Stattdessen griff er nach Hendriks Hand, als wollte er sie schütteln, und sagte: »Es wird nicht sehr wehtun.«
»Wie?« Hendrik wollte seine Hand zurückziehen, doch Bruhns hielt sie fest. Er hatte erstaunliche Kraft. Im nächsten Augenblick war da eine weitere Spritze in seiner Hand, und Hendrik dachte noch: Das muss ein Traum sein, denn es macht keinen Sinn. Und: Wie dumm ich bin. Wo schon so ein Ding auf dem Tisch … Und dann dachte er: Anna.
Und dann war da nichts mehr, das er denken konnte. Die Welt verschwand. Das Letzte, was er hörte, war das Sirren der Maschine.
Frederic hatte sich nie so gefreut, jemanden zu sehen, wie an diesem Abend Lisa. Die Maschen im Draht waren gerade weit genug, um eine Hand hindurchzustrecken.
»Was machst du für Sachen?«
»Wie hast du hergefunden?«
»Kann man den blöden Draht nicht durchsägen?«
»Hast du den besonderen Dietrich gefunden, draußen, bei dem schwarzen Schacht?«
»Den Schacht habe ich gesehen. Aber da lag nichts in der Nähe. Welchen Dietrich?«
»Wollen wir uns weiter gegenseitig Fragen stellen, oder bist du wegen etwas anderem gekommen?«
Sie sah sich um. Der Traumwächter war wieder seine Leiter hinaufgeschlurft, um weiterzurauchen. Den Schlüssel hatte er innen in der Tür stecken gelassen. Er schien nicht scharf darauf, noch einmal herunterzukommen und Lisa die Tür zu öffnen. Vermutlich klang das Alte Männer verhauen noch in seinen Ohren.
»Der Gully«, flüsterte Lisa. »Die alte Dame aus dem zweiten Stock sagt, man kann durch den Gully entkommen. Sie hat es getan.«
»Die alte Dame? Du hast mir ihr gesprochen?«
»Ich dachte, wir wollten mit dem Fragenstellen aufhören. Sie ist ein Traum. Ein Zwischending zwischen Alb- und Nicht-Albtraum. Mittelgewicht, sozusagen. Und ich bin gekommen, um dir von ihr auszurichten, dass du durch den Gully musst. Ach ja.«
Sie kramte in ihren Taschen, holte drei Schokoriegel und eine kleine Colaflasche heraus und steckte sie durch das Gitter. »Oje. Es ist, als würde man Hühner füttern.«
»Du brauchst gar nicht erst darauf zu hoffen, dass ich jetzt ein Ei lege«, sagte Frederic und riss das Papier des ersten Riegels auf. Dann stopfte er ihn auf einmal in den Mund, während er in dem Rucksack zu seinen Füßen den Kreuzschlitzschraubenzieher suchte. Wenigstens brauchte man für Gullys keine … »Was ist die Mehrzahl von Dietrich?«, fragte Frederic.
Lisa überlegte. » Marlene Dietrich«, sagte sie. »Viel Glück. Ich muss zurück. Ich habe eine Verabredung mit deinem Vater.«
Frederic riss die Augen auf. »Mit Hendrik?«
»Eigentlich eher mit dem Paket, das er finden will. Er hat es versprochen.«
Frederics Augen wurden noch größer. »Mit … dem Paket? Wie soll er das finden?«
»Er wird «, sagte Lisa fest, »glaub mir. Er hat mitgekriegt, dass ich sauer auf ihn bin, weil er dich auf so fahrlässige Weise verloren hat. Er wird es finden. Und außerdem muss ich zurück, weil Änna auf mich wartet. Sie sitzt im Auto, vor den Toren zum Fabrikgelände. Ohne sie hätte ich es nie gefunden.«
Jetzt konnten Frederics Augen nicht mehr größer werden. Nicht, ohne herauszufallen. »Änna?«
Frederic summte vor sich hin, während er die Schrauben des Gullys löste. Er hätte früher darauf kommen können … aber wer konnte auch ahnen, dass die Kanalisationsrohre hier groß genug waren, um einen Menschen aufzunehmen?
Er legte den Gullydeckel leise neben die Öffnung, aus der es roch, als hätte jemand den Gully vor nicht allzu langer Zeit als Toilette benutzt. Eine Leiter führte dort hinunter, doch die drahtdünnen metallenen Sprossen sahen glitschig und wenig zuverlässig aus. Dennoch: Er musste es versuchen. Es war seine einzige Chance. Und trotz seiner Angst und trotz des Gestanks war Frederics Herz leicht, leicht wie ein guter Traum. Änna hatte Lisa den Weg gezeigt! Obwohl sie keine Träume mehr hatte. Wie viel Mut musste es sie gekostet haben! Und dann fiel ihm etwas ein.
Er sah nach oben. »He!«, rief er den Träumen leise zu. »Welche von euch gehören Änna?«
»Ich«, zirpte es schüchtern von dort oben. »Und ich! Und ich
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