Nacht der gefangenen Träume
waten. Und hier unten wisperte und tuschelte noch etwas anderes als die Träume in seinem Schulrucksack: Etwas huschte und fiepte, quietschte und pfiff.
Frederic entdeckte einen Seitengang, dann noch einen – die Gänge verzweigten sich, hier gluckerte Wasser ins System, dort ging es ein wenig aufwärts, da wieder ein wenig abwärts. Mal war die Decke niedrig, mal hoch genug, um aufrecht zu gehen. Aber es gab nirgendwo einen Ausgang, nirgendwo eine Röhre, die nach oben führte, zu einem Gully. Nie im Leben hatte er sich so sehnlich gewünscht, einen Gully zu finden. Schließlich blieb er erschöpft stehen, lehnte sich gegen die Wand und atmete die abgestandene Luft tief aus und ein.
Wie lange war er schon unterwegs? Es kam ihm vor, als wären Stunden vergangen, Tage vielleicht. Oder waren es erst Minuten? Was, wenn die alte Dame gelogen hatte? Sie war ein Traum, hatte Lisa gesagt; ein Traum, weder ganz böse noch ganz gut. Womöglich hatte sie der Versuchung einfach nicht widerstehen können, Frederic in ein auswegloses Labyrinth zu führen?
Etwas witschte über seine Hand, und er schrie auf vor Schreck.
»Was ist los?«, fragte eine winzige Stimme. »Bist du ein Mädchen , oder was?«
»Wer …?«, begann Frederic.
»Eine Ratte natürlich«, antwortete die kleine Stimme. »Du bist unterwegs durch unser Wohnzimmer, mein Guter!«
»Aber … Ratten können nicht sprechen!«
»Firlefanz. Menschen können nicht hören«, sagte die Ratte. »Nur tief unten, in der Dunkelheit, unter extremem Stress, da hören sie manchmal. Es ist eine Studie, die wir gerade durchführen. Eine Studie über Grenzerfahrungen. Was ist deine Blutgruppe?«
»Keine Ahn… au!«
»Memme! Dieses winzige Loch in der Haut!« Ein Schmatzen. »Mmh … A 2, Rhesusfaktor positiv … schön, dass du vorbeigekommen bist. Ist ziemlich schwierig, hier unten genügend Leute für ’ne Studie zusammenzukriegen …«
Ihre Stimme entfernte sich, und Frederic war wieder allein in der Dunkelheit. Oder war er die ganze Zeit über allein gewesen?
Frederic fand nie einen Gully.
Ein Gully fand ihn.
Es regnete aus diesem Gully auf seinen Kopf. Er blieb stehen, sah nach oben, bekam einen Tropfen Wasser ins linke Auge und fluchte. Der nächste Tropfen landete auf seiner Stirn. Als der dritte herabfiel und sein rechtes Ohr traf, waren seine Hände bereits unterwegs in der Luft und suchten im Dunkeln das Ende einer Leiter. Doch leider war da keine Leiter. Gab es etwa besonders sportliche Kanalarbeiter, für die man leiterlose Abflussrohre wie dieses hier geschaffen hatte, damit sie sich im Freeclimbing üben konnten?
Hier also stand er, direkt unter dem Weg in die Freiheit, und konnte ihn nicht nutzen. Er wollte sich schon frustriert in den Schlamm setzen, als er merkte, dass er den Boden verließ. Er schwebte.
Er schwebte langsam aufwärts, das Kanalrohr hinauf.
»Was …?«, begann Frederic und verstand plötzlich: Die Träume! Endlich konnten sie aufsteigen, und sie zogen ihn mit sich, wie sie es schon auf dem Weg abwärts versucht hatten. Der Rucksack auf seinem Rücken funktionierte nun wirklich wie ein Ballon, und er spürte ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.
Als er oben anstieß, ließ sich der Gullydeckel ganz leicht öffnen. Frederic brauchte sich nicht einmal anzustrengen, um die Schrauben zu lösen. Sie waren rostig und alt und gaben beim bloßen Gedanken an einen Schraubendreher freiwillig nach.
Frederic hob den Gullydeckel an, durch den es noch immer tropfte. Die Dunkelheit jenseits des Deckels war eine andere Dunkelheit als die der Tiefe; sie roch nach Regen und nach Nacht. Und erstaunlich wenig nach Abwässern. Frederic atmete sie tief ein.
»Warte!«, wisperte seine eigene Stimme aus dem Rucksack. »Wo genau kommen wir heraus? Was, wenn es dort gefährlich ist?«
»Du glaubst gar nicht, wie egal mir das ist!«, erwiderte Frederic – der echte Frederic. »Jedenfalls hört es sich nicht nach einer gefährlichen großen Straße an.«
Er schob den Deckel zur Seite, und die Träume zogen ihn heraus. Dann stiegen sie vorerst nicht weiter auf.
»Wo sind wir?«, flüsterten sie furchtsam aus dem Rucksack.
Frederic sah sich um. Über ihm leuchteten ein paar vereinzelte Sterne durch die Lücken einer Decke aus Regenwolken. Es war kalt. Er stand in einem Hof, dessen Pflastersteine von Gras und Moos beinahe gänzlich überwachsen schienen. Neben ihm kauerten drei große schwarze Umrisse. Er zuckte zusammen. Aber dann sah er, dass
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