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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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es Mülltonnen waren, klobige, altmodische, von Rost zerfressene Metalltonnen.
    Die Wolken zogen gerade beiseite wie ein Theatervorhang, und das weiße Licht einer frisch geschärften Mondsichel spiegelte sich in zerborstenen Scheiben. Eine zerzauste, nasse Katze huschte vorüber und verschwand durch eines der Fenster ins Innere der Ruine, in dessen Hof Frederic stand.
    Das Abrisshaus.
    Nicht nur die Wolken, dachte er, haben einen Sinn für theaterreife Auftritte.
    »Es ist noch immer viel zu gefährlich, nach Hause zu gehen, wegen Bruhns«, sagte er zu den Träumen. »Aber ich denke, ich weiß, wo ich schlafen werde.«
    Er schlüpfte aus den Rucksackschlaufen und der Rucksack schwebte einen Moment lang auf Augenhöhe in der Luft. Dann öffnete sich der Reißverschluss von innen und der geträumte Frederic stieg heraus, schloss den Rucksack wieder und befestigte ihn auf seinem Rücken. »Aber wir, wir gehen nach Hause«, sagte er.
    »Nach Hause, in Ännas Kopf?«
    »Es ist verlockend, draußen zu bleiben«, sagte Frederic zwei. »Aber ich denke, sie braucht uns.« Damit winkte er und schwebte durch die Lücke in der Mauer auf die Straße hinaus.
    Als Hendrik zur selben Zeit aufwachte, lag er im Dunkeln auf etwas Unbequemem. Das Unbequeme war ein Linoleumboden. Die Luft, die er atmete, war staubig und schmeckte nach Kreide. Hendrik setzte sich vorsichtig auf. Sein Kopf fühlte sich an, als würde eine Waschtrommel darin arbeiten. Eher noch ein Betonmischer. An seiner rechten Hand pochte eine winzige, schmerzende Stelle.
    Sonst schien er aber heil zu sein. Er rappelte sich hoch, ging ein paar Schritte in dem dunklen Raum und stieß an etwas: ein Tisch. Da waren auch Stühle, viele Stühle … ein Klassenzimmer! Leider war die Tür, die er fand, fest verschlossen. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit. Die einzigen Lichtflecke drangen durch die Ritzen einer Reihe heruntergelassener Rollos. Er suchte tastend, doch es gab keinen Riemen, um die Rollos hochzuziehen. Stattdessen fand er mehrere Knöpfe. Die Rollos funktionierten automatisch. Zurzeit funktionierten sie allerdings automatisch nicht. Genau wie die Lichtschalter. Jemand hatte die Sicherung zu diesem Raum ausgeschaltet.
    Es war keine Frage, wer. Er hob einen Stuhl auf, plötzlich wütend, bereit, das Fenster einzuschlagen. Doch dann stellte er den Stuhl wieder hin und bog zunächst die Lamellen eines Rollos auseinander, um ins Licht der Straßenlaternen hinauszuspähen. Vierter Stock. Keine Chance.
    Hendrik fluchte, tastete nach seinem Handy und war wenig erstaunt, als er es nicht fand. Er setzte sich auf den Fußboden, verwünschte Bruhns’ Schläue und versuchte, einen halbwegs klaren Gedanken zu fassen.
    »Ach, Anna«, flüsterte er. »Frederic hatte recht. Und ich habe immer gedacht, er erzählt Märchen. Dieser Direktor Bruhns ist wirklich ein Verrückter.«
    Er legte den Kopf auf die angezogenen Knie und versuchte, die dröhnende Betonmischmaschine in seinem Kopf zu verdrängen. Das musste die Folge von Bruhns’ Spritze sein.
    »Lisa hat es gewusst«, wisperte er. »Sie hat ihn verstanden, Anna. Und ich – ich habe nichts begriffen. Hier sitzt er, der reumütige Vater, und es tut ihm leid, aber das nützt ihm herzlich wenig. Und er begreift immer noch nichts. Ob er jemals etwas begreifen wird, der Dummkopf?«

11. Kapitel
    Lady Macbeth und das Unglück in den Wänden
    »Armer Hendrik«, sagt Frederic. Er steht am Fenster und sieht hinaus, als könnte er dahinter seinen Vater erkennen. »Er war schon in diesem Klassenzimmer eingesperrt, als ich aus dem Gully gekrochen bin?«
    »Ich denke, ja.«
    »Ich hätte ihn also nicht mal gefunden, wenn ich zu ihm nach Hause gegangen wäre.«
    »Warum bist du nicht nach Hause gegangen? Dachtest du wirklich, Bruhns würde immer noch dort lauern?«
    »Ja. Nein. Ich weiß nicht. Ich dachte wohl, alles Weitere könnte bis morgen warten. Hendrik und Lisa und das Paket, falls sie es gefunden hatten. Ich wollte einfach auf der Stelle umfallen und schlafen. Und es war ja auch gut, dass ich im Abrisshaus geblieben bin. Wenn man bedenkt, was dann passierte …«
    Er bricht ab. Ich sehe nur seinen Rücken; er steht noch immer am Fenster, aber ich vermute, er wird ein bisschen rot.
    »Ich … erzähl dann mal weiter«, sage ich.
    Frederics Hinterkopf nickt. Bis ich erzählt habe, was dann passierte, wird er mich sicher nicht mehr ansehen.
    Er kletterte durch dasselbe Fenster ins Abrisshaus, durch das er schon

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