Nacht der gefangenen Träume
sagte Änna.
Im Fahrtwind taumelten ein paar schillernde Seifenblasen aus Lisas roten Locken. Eine von ihnen landete auf Ännas Nase und zerplatzte dort mit einem leisen »Plopp«.
»Wo muss ich langfahren?«, fragte Lisa.
Änna schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Lisa hatte gesagt, sie hätte ihre Träume verloren. Als das geschehen war, musste sie die Bilder aller verbotenen Dinge in ihrer Erinnerung verscheucht haben.
Jetzt holte sie sie hervor, wie man Dinge hinter dem Schrank hervorholt: mit spitzen Fingern und abgewandtem Gesicht, gefasst auf eine Menge Staub und Dreck. Aber hinter dem Schrank ihrer Erinnerung war kein Staub. Da war ein altes schwarzes Herrenrad. Darauf saß Frederic, und jetzt drehte er sich im Fahren nach ihr um, winkte, bog in eine Seitenstraße ein … Änna öffnete die Augen.
»Da vorne links«, sagte sie leise. In ihrem Kopf fuhr Frederic weiter, und alles, was sie tun mussten, war, ihm zu folgen. Natürlich war er nicht wirklich da. Aber was ist schon wirklich?
Wenig später lenkte Lisa das Auto über einen holprigen Sandweg. Klobige, eckige Körper von Gebäuden ohne Architektur ragten neben ihnen auf, stumme Hallen und Lagerräume; und irgendwo stieg bereits die Dämmerung aus Klumpen von Beton und Stahl.
Sie fuhren bis zum Ende des Weges, und dort empfing sie ein Tor. Daneben lagen hinter einem Haufen Schrott zwei zerquetschte Fahrräder, ineinander verhakt wie eine seltsame zweidimensionale Skulptur. Eines davon war ein schwarzes Herrenrad. Änna schluckte. Lisa schläferte den Motor ein.
Sie saßen eine Weile schweigend im Auto.
»Du musst durch das Tor gehen«, sagte Änna schließlich.
»Kommst du nicht mit?«
Änna schüttelte den Kopf. »Es ist verboten, das Gelände hinter dem Tor zu betreten. Ich dürfte nicht mal hier sein.«
»Shit«, knurrte Lisa. »Es muss wirklich furchtbar sein, keine Träume mehr zu haben. Kann man denn gar nichts Verbotenes mehr tun?«
Sie stieg aus und drückte einen Flügel des Tors ein wenig weiter auf. Ehe sie hindurchschlüpfte, winkte sie noch einmal. Dann war Änna allein, allein in einem Auto mit dem Geruch nach Karamellbonbons, per Anhalter gefahrenem Hund und einem Kastanienbaum.
Der alte Traumwächter saß an diesem Abend auf der untersten Etage des Gerüsts, baumelte mit den Beinen und drehte sich eine Kippe aus zerhäckselten Rauchverbotsschildern. In letzter Zeit kam man ja kaum noch zum Rauchen! Es geschah viel zu viel. Er hatte die Zigarette gerade angesteckt, da klopfte es unten an der Tür.
Der alte Mann fluchte, erhob sich ächzend und kletterte die Leiter hinab. Es klopfte erneut, lauter, ungeduldig. Bruhns musste noch einmal zurückgekommen sein.
Der HD hatte einen Schlüssel zur Haupttür, aber er ließ sich lieber öffnen. Natürlich.
»Geduld, Geduld!«, knurrte der Traumwächter. »Ich werde eben nicht jünger.«
Er erreichte den Gang und schlurfte ihn entlang. »Andererseits werde ich aber auch nicht älter«, fügte er hinzu und kicherte. Wenn dieser Junge wüsste, dass er, der Wächter, selbst nur ein Traum war! Dieser Junge, der glaubte, Menschen wären etwas Besseres als Träume! Von wegen!
Er öffnete die Tür und blinzelte verwundert in die Abenddämmerung. Vor ihm stand nicht Bruhns, sondern eine junge Frau mit roten Locken und einem irgendwie wilden Blick.
»Was wollen Sie hier?«, fragte er anklagend. »Sie sind doch kein Traum, oder?«
»Nein«, antwortete die Frau. »Aber ich besitze eine Menge davon. Und in meinen kühnsten verhaue ich alte Männer, die kleine Jungen in Käfigen gefangen halten.«
Der Alte machte einen Schritt zurück. »Immer langsam mit den Jungen und den Pferden! Ich halte gar niemanden gefangen. Ich habe zu diesen Käfigen nicht mal einen Schlüss…«
»Lisa!«, rief Frederic.
Als Hendrik zur selben Zeit St. Isaac betrat, war dort alles still. Trotz des Dienstagabends war die Schule nicht verschlossen. Die Steinengel betrachteten ihn stumm und im Gebäude brannte kein Licht. Er ging die Flure mit hallenden Schritten entlang wie in einem Traum. Wären die Dinge nur nicht so verwirrend gewesen! Wie sollte er ein Paket finden, über das er nichts wusste, außer dass es unauffindbar war?
In den Fluren hingen Bilder von Äpfeln und Birnen, Stillleben, die nicht nur still, sondern auch leblos schienen. Zum ersten Mal fragte sich Hendrik, ob etwas nicht stimmte mit den Kindern in St. Isaac. Er hatte die Bilder schon früher gesehen, viele Jahre lang, immer
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