Nacht der gefangenen Träume
auch!«
»Kommt da runter, ihr Ichs!«, sagte Frederic. » Ich nehme euch mit.«
»Aber wir – wir können nicht unter die Erde. Wir haben zu viel Auftrieb. Es ist anstrengend genug, ab und zu auf den Fußboden hinunterzu…«
»Ruhe im Kuchen!«, befahl Frederic und freute sich über diesen schönen neuen Ausdruck. »Kommt jetzt! Und bleibt bloß komprimiert!«
Er öffnete seinen Schulrucksack. Und als er gleich darauf in den Gully hinabstieg, fest an die rutschigen, feuchten Leitersprossen geklammert, trug er auf dem Rücken eine Bürde ohne Gewicht. Im Gegenteil: Der Rucksack riss ihn nach oben. Er musste mit aller Kraft gegen den Drang der Träume ankämpfen, aufzusteigen.
Je tiefer Frederic kam, desto stärker zogen ihn die Träume hinauf. Es war, als hätte er einen Heißluftballon auf den Rücken geschnallt. Als zerrten die Arme Tausender von unsichtbaren Wesen an ihm. Doch er wehrte sich standhaft und kletterte weiter und weiter ins Dunkel hinab. Vor ihm lagen ungewisse Tiefen, oder gewisse Untiefen, und hinter ihm warteten die gefangenen Träume auf ihre letzte Nacht. Frederic hing zwischen Käfiggittern und unterirdischer Dunkelheit wie ein Hering zwischen Haifischmaul und Rollmopsfabrik.
Er war inzwischen mehrere Meter tief unter der Erde. Und da begannen die Geräusche. Sie kamen von jenseits des Kanalisationsrohrs, und er hielt inne, um zu lauschen: Zuerst war da nur ein leises Heulen, dann ein Seufzen, ein Singsang – er kletterte weiter. Jetzt jaulte es dort hinter der Wand, lauter und lauter, etwas knirschte wie brechende Knochen, und einige Sprossen tiefer hörte er Schreie, schrill und panisch, begleitet von hämischem Lachen und einem Knattern wie von Schusswaffen. Dann war da ein herzzerreißendes Weinen, und Stimmen brüllten einander an. Frederic wollte sich die Ohren zuhalten, doch er konnte die Leiter nicht loslassen, ohne dass ihn die Träume auf seinem Rücken zurück in die Höhe zogen. Er wünschte, er hätte schneller abwärtsklettern können, an den schrecklichen Geräuschen vorbei, aber auch daran hinderten ihn die Träume. Wenn er den Rucksack jetzt abstreifte, wäre alles besser. Er löste die Gurte mit einer Hand …
»Und Änna?«, flüsterte eine bekannte Stimme aus dem Rucksack heraus, kaum zu vernehmen zwischen den Schreien, die aus der Wand drangen. Frederic erkannte die Stimme trotzdem. Es war seine eigene. Es war Ännas Traum von ihm.
Er zog die Gurte wieder enger, entschlossen. Er konnte Änna nicht im Stich lassen. Ganz nah war jetzt das Rauschen von riesigen Schwingen zu vernehmen, der Ruf eines großen Vogels und der Todesschrei seiner Beute. Was war dort, jenseits der Wand? Was schrie dort? Was weinte? Frederic hielt die Vorstellung nicht aus, dass hinter der Wand jemand litt, dem er nicht helfen konnte. Weiter! Weiter! Fort von den furchtbaren Tönen! Nun ächzten die unbekannten Stimmen wie unter Schmerzen, heulten wie Wölfe. Etwas knallte peitschengleich, und Frederic hätte vor Schreck fast die Leiter losgelassen.
Einmal vernahm er zwischen den chaotischen Geräuschen überraschend Klaviermusik, und dann brüllte jemand Befehle. Es war Bruhns.
Nein! Es war nicht Bruhns. Auf einmal begriff Frederic. Es war ein Traum von Bruhns. Dort, hinter der Wand, waren die Albträume eingekerkert. Das Kanalrohr führte direkt an ihrem Verlies vorbei.
Er beeilte sich weiterzukommen, und endlich, endlich wurden die Schreie und das Stöhnen leiser, endlich war da nur noch ein leises Schluchzen in der Ferne über ihm. Und dann endete die Leiter. Frederic erschrak und tastete mit den Füßen umher. Ja, da war etwas: Boden. Er stieg hinunter, rutschte aus, landete auf den Knien und fluchte. Hier unten roch es noch stärker nach … allem Möglichen, über dessen Herkunft er nichts wissen wollte. Er beeilte sich, wieder aufzustehen, und seine Hände fanden die Wände eines glitschigen Gangs, in dem er sich bald nur noch geduckt fortbewegen konnte. Die Träume schleiften an der Decke des Gangs entlang. Er hörte sie ängstlich wispern und rascheln.
»Es ist zu tief«, flüsterten sie. »Wir haben diesen Druck auf den Ohren!«
»Darum kann ich mich jetzt nicht auch noch kümmern«, sagte Frederic ungehalten. »Kaut Kaugummi! Das hilft beim Fliegen für den Druckausgleich. Gibt es unter euch keinen Traum von einer Packung Kaugummi?«
Er tastete sich weiter voran, die Füße in unidentifizierbarem Schlick. An manchen Stellen musste er bis zu den Knien in kaltem Wasser
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