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Nacht der gefangenen Träume

Nacht der gefangenen Träume

Titel: Nacht der gefangenen Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Michaelis
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wenn er hier gewesen war, um nach den Computern zu sehen. Er hatte ihre Leblosigkeit gesehen und die beunruhigende Ruhe in den Gängen gehört. Und war es nicht immer ruhig gewesen? Auch wenn die Kinder da waren? Gab es da etwas, das er all die Jahre übersehen, überhört, überfühlt hatte?
    Vor einem der Bilder blieb er stehen. Es war das einzige, das Leben besaß. Er suchte den Funken darin und fand ihn, verblüfft: Es war nur eine winzige Kleinigkeit. Auf dem Bild waren Männer und Frauen aufgereiht wie auf einem Gruppenfoto, nur dass sie auf einer leicht misslungenen Karotte standen. Einem der Männer, einem großen, dicken, den Hendrik schon in den Gängen der Schule gesehen hatte, hatte der Künstler Flügel gemalt. Ihre Spitzen ragten sonnengelb über seine Schultern. Aber es sah aus, als hätte jemand die Federn gestutzt.
    Er schüttelte sich. Warum stand er hier und starrte ein Wasserfarbenbild an?
    Er musste jemanden finden, der ihm weiterhalf. Doch die Klassenzimmer, deren Türen er aufriss, waren allesamt leer. Das Lehrerzimmer war noch verlassener. Nur kalter Zigarettenrauch hing über den Tischen.
    »Hallo?«, fragte Hendrik in die Stille. Seine Stimme klang beinahe panisch. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Einen Flur weiter klopfte er an die Tür des Sekretariats, erhielt keine Antwort und trat ein. Auch hier war niemand zu finden. Nur das bekannte Parmafaulchen schlief auf dem Fensterbrett … Moment. Waren da nicht Stimmen, leise Stimmen, hinter der Tür mit der Aufschrift »REKTORAT«? Hendrik stand ganz still und lauschte. Die Stimmen waren mühsam beherrscht.
    Eine gehörte dem Schuldirektor. Er schien sich mit jemandem über irgendetwas zu streiten. Zuerst verstand Hendrik keine Worte. Dann wurde die Stimme des Direktors lauter.
    »… zu eigenen Zwecken nutzen«, sagte er. »Gott allein weiß, was Sie damit vorhaben, aber keiner von uns beiden unterrichtet Religion, und so muss ich spekulieren. Um das Zeug selbst zu benutzen, sind Sie zu feige. Wollen Sie mich auf irgendeine Weise damit erpressen? Es sind keine Spuren von mir daran. Und die Pakete gingen immer an einen Herrn Kr. Ska. Seesn, als welcher ich auch den Erhalt jeder Sendung unterzeichnet habe. Also vergessen Sie’s. Wo ist es, Fyscher?«
    Irre …, dachte Hendrik. Irre … ich mich? Oder geht es genau um das Paket, das ich suche? Ein beinahe romanhafter Zufall, aber bitte, auch solche muss es geben – für die Romane.
    »… weiß es nicht«, unterbrach der andere Lehrer seine Gedankenkette. »Sie haben die letzte Sendung sowieso noch nicht. Frühestens morgen wird sie da sein. Ich habe Ihnen tausendmal gesagt, dass es dumm wäre, jetzt schon … ich habe Ihnen doch erklärt, dass es besser ist, sicherzugehen. Und ich habe recht, Sie werden schon sehen. Aber ich habe das Ding nicht. Ich habe keine Ahnung, wo es sich befindet.«
    »Fünffache Wortwiederholung, Note Sechs«, sagte Bruhns. »Sie haben eine Menge Dinge, Fyscher. Wissen Sie, was Sie außerdem haben? Sie haben zu viele eigene Ideen. Das kommt von den Träumen. Ungesund. Ganz ungesund.«
    »Sie können doch nicht …«
    Ein Tisch wurde gerückt, ein Stuhl schien umzufallen, etwas zu Boden zu stürzen, da war ein erstickter Schrei – Hendrik ging einen Schritt rückwärts. Wo war er da hineingeraten? Prügelten sich die beiden Lehrer jetzt etwa zwischen den Topfpflanzen im Rektorat? Er wartete eine Weile, unschlüssig. Nun war es auf einmal still hinter der Tür. Unnatürlich still. Hendrik holte tief Luft und öffnete die Tür.
    Ihm bot sich ein merkwürdiges Bild. Ein Bild, das er nicht verstand, noch viel weniger als das gemalte Bild mit den gestutzten Flügeln:
    Auf dem Direktorenstuhl hinter dem großen Schreibtisch saß ein Mann, der mit dem Kopf auf dem Tisch lag, beide Arme über die Tischplatte gestreckt. Neben ihm, auf der Tischplatte, lag eine Spritze mit dünner Nadel, und auf seinem rechten Handrücken war ein winziger Tropfen Blut zu sehen. Er schien fest zu schlafen, doch an seinem Kopf waren Saugnäpfe befestigt, von denen Schläuche zu einem leise sirrenden Gerät führten. Der Mann auf dem Direktorenstuhl war jedoch nicht der Direktor von St. Isaac. Der Direktor von St. Isaac stand neben der Maschine und bediente dort eine Reihe blinkender Knöpfe. Oder: Er hatte sie bis eben bedient.
    Jetzt blickte er Hendrik an und öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Einen Moment lang verharrten sie so, starrten sich

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