Nacht der gefangenen Träume
einmal geklettert war, damals, als Änna draußen auf ihn gewartet hatte. Es kam ihm vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dabei war seitdem kaum eine Woche vergangen.
Diesmal war Frederic zu müde, um sich vor den Schatten im Abrisshaus zu fürchten. Als eine der streunenden Katzen ihn streifte, sagte er nur gleichmütig »’n Abend« zu ihr und ging weiter. Er konnte es im Dunkeln natürlich nicht sehen, doch die Katze schien ihm einen entsetzten Blick zuzuwerfen. Vermutlich roch er wie ein ganzer Abwasserkanal. Ach was, wie eine komplette Kläranlage. Er musste diesen Geruch loswerden, sonst würden ihn die Abflussrohre bis in den Schlaf verfolgen.
So stieg er bis ganz hinauf unters Dach, dessen Ziegel nur noch stellenweise vorhanden waren. Die Tür, die vom Treppenhaus auf den ehemaligen Dachboden führte, war erstaunlicherweise noch vorhanden und quietschte in den Angeln, weil der Wind sie hin und her schlug. Der Regen war jetzt stärker geworden. Die Birken bogen sich als dunkle Gestalten unter den Tropfen. Unter einem noch intakten Teil des Daches zog Frederic sein T-Shirt aus und streifte die Turnschuhe ab, die so enge Freundschaft mit den Abwässern der Stadt geschlossen hatten. Danach trat er nackt hinaus in die Mitte des Daches, die ziegellose Mitte. Der Oktoberregen traf ihn mit voller Wucht.
»Uaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaah!!«
Er hatte nicht geplant zu schreien, aber der Regen war auf der bloßen Haut einfach zu kalt. Er fegte in peitschenden Stößen auf Frederic herab wie ein unbarmherziger Lederriemen, und zuerst bereute er, dass er sich dieser Art Dusche freiwillig ausgeliefert hatte. Doch dann, ganz plötzlich, kippte etwas in ihm wie ein Schalter, und er spürte die Kälte nicht mehr. Er ließ das Wasser über sein Gesicht laufen, schmeckte die bunten Farben des Oktobers darin, fühlte, wie der Regen den Dreck des Kanals abwusch und mit ihm die Schreie und das Heulen der Albträume und seine eigene Angst. Irgendwo unten im Schulhof musste die Kastanie den gleichen Regen auf ihren Blättern spüren – und es war, als könnte Frederic das Knispern dieser Blätter auf seinen Wangen fühlen.
Er begann, dort oben auf dem Dach einen wilden Tanz aufzuführen, einen nackten Oktoberregentanz wie ein wahnsinniger Indianer.
Die erstickende Enge der Kanäle hatte ihn nicht besiegt. Er war frei. Er war am Leben. Er besaß einen Kopf voller Träume und ein Herz voller Ideen. Es gab tausend Maschinen zu bauen und tausend Dinge zu entdecken. Die Welt war wunderbar.
Der Regen begleitete seinen Indianertanz mit einem Trommelwirbel auf den verbliebenen Dachziegeln, klopfte den Beat auf den alten Balken … und dann war da noch ein Geräusch. Schritte.
Frederic erstarrte.
Die Schritte kamen die Treppe herauf. Sie waren schon ganz nahe. Er sah sich gehetzt um. Der Trommelwirbel des Regens hatte jetzt etwas Bedrohliches. Wo konnte man sich hier verstecken? Hinter einem der dünnen Birkenstämmchen? Lächerlich. Vielleicht wäre der Mittelbalken dick genug – zu spät.
Im Treppenaufgang war jetzt eine Gestalt aufgetaucht.
Das Licht einer Taschenlampe blendete ihn, und er hielt eine Hand vor die Augen.
Da stand er, splitterfasernackthundenackt, mitten im Regen, mitten im Licht der Lampe, und blinzelte hilflos in die Helligkeit wie ein neugeborenes Katzenkind.
»Hallo?«, fragte Frederic ins Licht.
Fünf Kilometer weiter nördlich fand Bork Bruhns keinen Schlaf. Er saß im Dunkeln am Fenster seiner Wohnung und sah hinaus in die verregnete Nacht, ohne die Nacht zu sehen.
Es war alles außer Kontrolle geraten. In einem unbenutzten Klassenzimmer schlief Lachmann seinen Ketamin-Kater aus. Im Rektorat lag Sport-Fyscher vermutlich noch immer mit dem Kopf auf dem Tisch. Morgen würde er sich fragen, was er dort tat. Aber er würde wenigstens niemand anders unangenehme Fragen stellen. Denn Sport-Fyschers Träume saßen mit den übrigen Träumen in der alten Fabrik fest; Bruhns hatte sie auf direktem Weg dorthin gebracht. Sobald die letzte Sendung kam – vermutlich schon in wenigen Stunden –, wäre er sie für immer los, sie und Lachmanns Sohn und eine gewisse Handvoll Albträume. Vor allem den Traum von einer Person. Er hätte diesen Traum viel früher beseitigen sollen, vor fünfzehn Jahren schon, doch damals hatte er sich nicht getraut.
Bruhns starrte das weiße Hemd an, das zum Trocknen über der Heizung hing. War der Fleck noch immer zu sehen? Es wäre ein Ausdruck von Schwäche, das Hemd wegzuwerfen. Genau
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