Nacht der Hexen
wenige Leute auch nur in unsere Richtung gesehen – nicht so viele, wie man hätte erwarten können angesichts der Tatsache, dass sie auf die Ankunft einer Fremden warteten. Aber vielleicht waren sie schon so lange da und hatten so viele Fremde vorbeifahren sehen, dass sie inzwischen nicht mehr reagierten, wenn ein neues Auto auftauchte. Als ich langsamer wurde, sahen sich mehr Leute zu mir um. Ich sah die Gesichter: gelangweilt, ungeduldig und fast ärgerlich, als wären sie bereit, auf den nächsten Schaulustigen loszugehen, der falsche Erwartungen weckte. Dann erkannten sie mich. Ein Ruf. Noch einer. Eine erste Bewegung in der Menschenmenge, die zu einem Strom und dann zu einer Welle wurde.
Ich drehte das Lenkrad und schob mich schräg hinter einen Pressetransporter. Eine Sekunde lang sah ich nichts als die Telefonnummer eines Fernsehsenders in Providence. Dann verschluckte eine Woge von Menschen den Kleinlaster. Fremde rempelten das Auto an und brachten es zum Schaukeln. Ein Mann, den die Masse zu Fall gebracht hatte, landete auf der Motorhaube. Das Auto wippte. Der Mann rappelte sich auf. Ich fing seinen Blick auf, sah den Hunger dort, die Erregung, und eine Sekunde lang erstarrte ich.
Als die Menschenflut das Auto umgab, wurde mir klar, dass eine sehr reale Gefahr bestand, eingeschlossen zu werden. Ich packte den Türgriff und stieß mit aller Kraft die Tür auf, ohne mich darum zu kümmern, wen sie traf. Ich sprang aus dem Auto, fuhr herum und packte Savannah, sobald sie ausgestiegen war.
»Ms. Winterbourne, haben Sie –«
»– wollen Sie –«
»– Vorwürfe –«
»Paige, was denken Sie –«
Das Fragengewirr traf mich wie ein Windstoß von siebzig Stundenkilometern und hätte mich fast ins Auto zurückgeschleudert. Ich hörte Stimmen, Worte, Rufe, und alles verschwamm zu einem einzigen donnernden Organ. Ich erinnerte mich, dass Cortez gesagt hatte, wir sollten uns vorn am Auto treffen. Wo
war
vorn? In der Sekunde, in der ich vom Auto wegtrat, war ich von Menschen umgeben, und der Lärm schlug über mir zusammen. Finger packten mich am Arm. Ich zuckte zurück, und dann sah ich Cortez neben mir, die Hand an meinem Ellenbogen.
»Kein Kommentar«, sagte er und zog mich aus dem Gewühl heraus. Einen Moment lang gab die Menge mich frei, dann verschluckte sie mich wieder.
»– haben Sie –«
»– lebende Tote –«
»– Grantham Cary –«
»– Drachen und –«
Ich öffnete den Mund, um »Kein Kommentar« zu sagen, aber ich brachte die Worte nicht heraus. Stattdessen schüttelte ich den Kopf und überließ es Cortez, sie an meiner Stelle zu sagen.
Als es ihm gelungen war, uns wieder frei zu bekommen, zog ich Savannah dichter an mich und legte ihr den Arm um die Taille. Sie wehrte sich nicht dagegen. Ich versuchte zu ihr hinzusehen, aber alles ringsum bewegte sich so schnell, dass ich nur einen kurzen Blick auf ihre Wange erwischte. Die Menge versuchte uns wieder einzuschließen, aber Cortez stieß sich seinen Weg hindurch und zog uns in seinem Kielwassernach. Wir waren etwa drei Meter weit gekommen, als der Mob anwuchs. Jetzt gesellten sich noch andere Leute zu der Pressemeute dazu, und der Ton dieser einen schreienden Stimme wandelte sich von gieriger Aufregung zu aggressiver Wut.
»– Killer –«
»– Satanistin –«
»– Hexe –«
Ein Mann stieß eine Journalistin aus dem Weg und baute sich vor Cortez auf. Seine Augen waren wild und blutunterlaufen; Speichel sprühte ihm von den Lippen.
»– Teufelshure! Mörderschlampe –«
Cortez hob die Hand bis auf Brusthöhe. Einen Moment lang glaubte ich, er würde nach dem Typen schlagen. Stattdes sen schnippte er nur mit den Fingern. Der Mann stolperte rückwärts, fiel gegen eine ältere Frau, die hinter ihm stand, und begann sie brüllend zu beleidigen, weil sie ihn gestoßen hatte.
Cortez manövrierte uns durch die entstandene Lücke. Wenn jemand nicht schnell genug aus dem Weg ging, rempelte er ihn zur Seite. Wenn sie uns den Weg zu verstellen versuchten, schnippte er auf Taillenhöhe mit den Fingern, was sie eben nachdrücklich genug nach hinten stieß, um sie glauben zu machen, dass jemand sie angerempelt hatte. Nach fünf langen Minuten hatten wir die Veranda erreicht.
»Geht rein«, sagte Cortez.
Er drehte sich rasch um und schob Savannah und mich in Richtung Haustür, während er selbst die Stufen blockierte. Ich hantierte mit dem Haustürschlüssel, während ich in Gedanken hektisch nach einer Formel suchte,
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