Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
Tür. «Maresciallo Pucci!»
Puccis Gesicht tauchte aus der Dunkelheit auf, schwebte beinahe körperlos zwischen den Türstöcken.
«Passen Sie auf den alten Herrn auf!», befahl Guerrini. «Franco! Du kommst mit uns!»
Franco zuckte zusammen, erhob sich, lief gebückt zur Tür, zuckte noch heftiger zusammen, als er plötzlich Lauras Hand auf seinem Rücken spürte.
«Warum gehst du nicht aufrecht?», fragte sie.
Franco Rana verharrte, als hätte sie ihn mit einem Zauberstab berührt.
«Was?»
«Ich habe dich gefragt, warum du nicht aufrecht gehst?»
Rana starrte auf die dunkle Türöffnung, auf Pucci, schrie unvermutet los:
«Weil ich Angst habe! Es ist besser, wenn man sich dann duckt, nicht wahr? Wenn man keine Macht hat, ist das besser, oder? Soll ich lieber singen? Wäre Ihnen das lieber? Lassen Sie mich in Ruhe, Commissaria!»
Laura zog ihre Hand zurück. Ihr war, als hätte Franco sie geschlagen. Und er hatte Recht.
«Gehen wir», sagte Guerrini.
Pucci und sein Schnellfeuergewehr füllten die kleine Küche. Der kleine Hund knurrte, der Alte hielt ihn fest und starrte auf den Boden.
«Gehen wir!», sagte Guerrini ein zweites Mal. Sie bewegten sich langsam durch den Flur, durch die dunkle Kammer zum Hinterausgang, überquerten den Hof, vorüber am Skelett des Cinquecento, erreichten den Ziegenstall.
«Mach auf!», sagte Guerrini.
Franco hob zögernd die Hand und schob den eisernen Riegel zurück. Ein paar Sonnenstrahlen fielen in den stockfinsteren Stall, der scharf nach Ziegen roch. Der Boden war mit Stroh bedeckt, Stroh, gemischt mit Ziegenkot. Als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, entdeckten sie Giuseppe in der hintersten Ecke des Stalls, und Laura dachte, dass er dort genauso angstvoll kauerte wie im Gefängnis von Siena. Zorn stieg in ihr auf und Mitleid. Diesmal packte sie Francos Schulter, riss ihn zu sich herum.
«Warum habt ihr ihm das angetan?», fragte sie leise, um Giuseppe nicht noch mehr zu erschrecken. Sie zog Franco zurück, ließ Guerrini allein. «Warum?»
Franco keuchte, riss sich los und lehnte sich mit dem Rücken an die Stallmauer. Laura beugte sich vor und versuchte seinen Blick festzuhalten, seine Augen, die umherirrten, nach rechts, nach unten, über Lauras Schulter hinweg ins Nichts.
«Ich war es nicht …», stammelte Franco endlich. «Mein Onkel war es! Er hat gesagt, dass wir die Familie vor Giuseppe schützen müssen. Dass er Unglück über uns bringen wird.»
«Und du hast nichts dagegen gesagt? Er ist dein Bruder, Franco!»
«O Madonna! Was für ein Bruder! Seit ich denken kann, passe ich auf ihn auf. Immer war ich für ihn verantwortlich. Immer hab ich Prügel gekriegt, wenn er etwas Verrücktes gemacht hat!»
«Glaubst du, dass dein Bruder jemanden umbringen könnte?»
Franco Ranas Augen wanderten.
«Ich weiß nicht», antwortete er leise. «Ich glaube nicht. Er ist so sanft mit den Lämmern und all den anderen Tieren. Sogar sanft mit den Pflanzen und Bäumen. Er singt für sie …»
«Magst du es, wenn er singt?»
Franco stöhnte.
«Manchmal mag ich es. Wenn er für die Tiere und Pflanzen singt. Wenn er singt, weil er etwas nicht hören will, dann macht es mich wütend. Ja, manchmal macht es mich wütend!»
Aus dem Stall summte es, lauter und lauter, unruhig, aufschreckend.
«Jetzt macht es mich wütend», flüsterte Franco. «Nein, nicht wütend, mehr unruhig, irgendwie verrückt. Es ist wie das Schreien der Perlhühner, wenn Sie das kennen, Commissaria. Oder das Weinen der Stachelschweine. Es … es kündigt Schrecken an.»
«Wo war Giuseppe letzte Nacht, Franco?» Laura stützte einen Arm an die Stallwand.
Zum ersten Mal traf sie Francos Augen. Kurz nur.
«Er war zu Hause. Schlief in seinem Bett. Ich habe die ganze Nacht aufgepasst, Commissaria. Ich dachte, wenn er wieder wegläuft, dann kann ich ihn nicht mehr beschützen.»
«Bist du ganz sicher?»
«Ganz sicher, Commissaria. Meine Mutter hat auch nicht geschlafen. Sie saß in der Küche und hat gebetet. Die ganze Nacht hat sie gebetet! Dieser Mann, der in der Abbadia wohnte … meine Mutter hat gesagt, dass er von den Hexen ermordet wurde.»
Laura verzog das Gesicht.
«Lassen wir die Hexen, Franco. War Giuseppe den ganzen Tag in diesem Ziegenstall eingesperrt?»
«Den ganzen Tag, seit ich ihn hergebracht habe, Commissaria. Mein Onkel hat ihn gleich eingesperrt, damit nichts passieren kann!»
Laura lächelte, dann lachte sie.
«Ich bin froh, Franco! Richtig
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