Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
erhielt keine Antwort, klopfte wieder. Lauter dieses Mal. Noch immer blieb es still. Da drückte er sacht auf die Klinke, öffnete die Tür einen Spaltbreit.
«Signora, dürfen wir eintreten? Wir würden uns gern nach Ihrem Befinden erkundigen.»
Ob sie die Falle spürt?, dachte Laura. Seltsam, dass ich meistens Mitleid mit Tätern habe, ehe ich sie überführen kann. Sie kommen mir vor wie Tiere in einem Käfig. Plötzlich sind sie in der Rolle ihrer Opfer, ohne Ausweg. Immerhin gibt es noch eine winzige Möglichkeit, dass sie es nicht war …
«Kommen Sie rein», antwortete Susanne mit matter Stimme. «Ich kann leider nicht aufstehen. Der Arzt hat geraten, dass ich liegen soll, bis das Fieber runter ist.»
Sie ruhte beinahe malerisch auf einem der schmalen Betten, Verbände und Pflaster bedeckten ihre Arme, ihre Stirn, ihr Dekolleté. Eine weiche hellblaue Decke hüllte ihren Körper ein, und sie richtete sich mühsam ein wenig auf, stöhnte kaum hörbar.
«Es tut uns wirklich Leid», murmelte Guerrini, «aber wir müssen Ihnen einige Fragen stellen, die sehr wichtig sind.»
«Könnten Sie mit Ihren Fragen nicht bis morgen warten? Mir geht es wirklich nicht besonders gut. Ich habe Fieber und Kopfschmerzen. Vermutlich habe ich die Tetanusimpfung nicht vertragen.» Susanne lehnte sich in die Kissen zurück und schloss ihre Augen.
Wieder hatte Laura den Eindruck, einem perfekten Schauspiel zu folgen, und sie fragte sich, warum sie nicht schon längst mit Susanne gesprochen hatte. Auf ähnlich perfekte Weise wie jetzt die Opferrolle hatte sie zuvor die Rolle der unauffälligen Beobachterin gespielt.
Laura räusperte sich und trat neben das Bett. Guerrini zog zwei Stühle heran.
«Es geht leider nicht anders. Wir müssen jetzt miteinander sprechen, Susanne. Ich darf Sie doch so nennen?», sagte Laura, und ihre Stimme klang unbeabsichtigt hart.
«Wenn ich Sie Laura nennen darf …», erwiderte Susanne und verzog das Gesicht, als litte sie Schmerzen.
«Sagen Sie ruhig Laura, das ist in Ordnung. Erzählen Sie bitte noch einmal ganz genau, was heute Nachmittag geschehen ist.»
Susanne riss kurz die Augen auf, schloss sie wieder.
«Ich … ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich versuche gerade zu vergessen, was ich erlebt habe. Es war … so furchtbar. Ein Albtraum. Wie in einem Horrorfilm …»
«Ich kann es Ihnen leider nicht ersparen. Wir müssen herausfinden, was hier vor sich geht. Zwei Menschen sind gestorben. Sie hätten das nächste Opfer sein können, deshalb sind wir auf Ihre Beobachtungen angewiesen!» Laura beugte sich ein wenig vor, beobachtete jede Regung im Gesicht der jungen Frau. Doch Susannes Züge glichen einer Maske. Lange antwortete sie nicht, endlich wisperte sie:
«Ja, ich weiß … ich hätte das dritte Opfer sein können. Wenn ich nicht so schnell gewesen wäre …»
«Wie sah er aus?»
«Ich kann mich nicht erinnern», flüsterte Susanne. «Nur an einen Schatten … einen Schatten mit einem Engelsgesicht. Ja, das war es. Ein Engelsgesicht mit langen Haaren. Aber etwas stimmte nicht mit diesem Gesicht … ich weiß nicht … es ging so schnell. Diese dunklen Augen, sie starrten mich an!» Susanne warf den Kopf hin und her.
«Hatten Sie dieses Gesicht schon einmal gesehen?»
Susanne atmete schwer.
«Ja», stöhnte sie. «Ich hatte es schon einmal gesehen. Es gehört einem jungen Mann, der mir unten am Bach begegnet ist. Bei einem Spaziergang am frühen Morgen. Ich … wollte mir einen Platz zum Meditieren suchen … da stand er plötzlich zwischen den Bäumen.» Sie legte einen Arm über ihre Augen.
«Was hat er gemacht?»
«Gar nichts. Er starrte mich nur an, aus diesen dunklen Augen. Dann drehte er sich um und lief weg.»
«War das vor oder nach Carolins Tod?»
«Ich … ich weiß es nicht. Dieses Fieber … ich habe die ganze Zeit das Gefühl, als würde ich träumen.»
Laura legte ihre Hand auf Susannes Stirn, ihren Hals. Handgriffe einer erfahrenen Mutter.
«Sie haben höchstens erhöhte Temperatur», sagte sie dann. «Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie uns kein Theater vorspielen würden!»
Susanne lag einen Augenblick ganz starr, dann öffnete sie langsam die Augen.
«Versuchen Sie sich zufällig in der Rolle der Therapeutin? Davon habe ich inzwischen genug! Lassen Sie das gefälligst!»
«Ich versuche mich in gar nichts, Susanne. Es geht hier um ein Verhör, falls Ihnen das nicht bewusst sein sollte.»
Susanne richtete sich halb auf.
«Ein Verhör?
Weitere Kostenlose Bücher