Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
einen Schrank, Zwiebelkränze an den Wänden, schlichen auf Zehenspitzen weiter, standen lauschend, wagten kaum zu atmen. Zwei Türen gingen von dem winzigen Flur ab. Kein Laut war zu hören. Drei, vier Minuten verharrten sie, dicht hintereinander, dann hob Guerrini eine Hand. Stimmen. Von links. Sie konnten jedes Wort verstehen, denn die Tür hatte breite Ritzen.
«Wo zum Teufel sind die?» Das war der alte Mann.
«Du bist verrückt, Onkel! Gegen die Polizei hast du keine Chance! Wenn die wollen, kommen sie mit hundert Mann!»
«Halt den Mund, Franco! Giuseppe hat der Familie schon genug Ärger gemacht!»
«Was hat das damit zu tun?»
«Darum geht’s, Franco. Genau darum!»
«Ich versteh dich nicht! Giuseppe ist ein guter Junge! Vielleicht wollen sie wirklich nur mit ihm reden!»
«Dummes Zeug! Du bist genauso verrückt wie dein Bruder! Glaub denen kein Wort. Kein Wort!»
Laura und Guerrini bewegten sich behutsam zur Tür, pressten sich links und rechts davon an die Wand.
«Wir warten, bis einer rauskommt!», wisperte Guerrini.
Hoffentlich macht Pucci keine Dummheiten, dachte Laura. Es roch nach Ziegen und Zwiebeln. Die Stimmen hinter der Tür waren verstummt. Giuseppe war anscheinend nicht in dem Raum. Oder verhielt er sich völlig still? Das konnte sich Laura nicht vorstellen. Giuseppe würde die Anspannung, die in der Luft lag, spüren und zumindest summen. Vielleicht hatte der Alte ihn in einem der Schuppen eingesperrt.
Schritte näherten sich der Tür. Lauras Muskeln spannten sich.
«Muss mal pinkeln!» Das war Franco.
«Pinkel in den Eimer hinten im Flur! Geh ja nicht raus!»
«Jaja!»
«Warte! Ich komm mit!»
«Wieso denn? Meinst du, ich kann nicht allein pinkeln?»
«Ich trau dir nicht, Franco! Du hast Angst vor der Polizei! Vielleicht läufst du durch die Hintertür raus, um denen zu zeigen, was für ein braver Junge du bist!»
Guerrini nickte Laura zu. Die Tür ging auf, Franco stolperte über die hohe Schwelle, stützte sich mit den Händen an der gegenüberliegenden Wand ab. Laura und Guerrini rührten sich nicht. Franco wandte sich nach rechts, hatte die beiden Polizeibeamten noch nicht bemerkt. Jetzt erschien der Lauf eines Gewehrs in der Tür. Laura steckte gleichzeitig mit Guerrini ihre Waffe weg, gleichzeitig griffen sie zu, drückten den Lauf nach unten. Der Schuss dröhnte in ihren Ohren, der alte Mann starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an, versuchte die Waffe aus ihrem Griff zu befreien, kämpfte mit aller Kraft, stand endlich mit hängenden Armen da. Jetzt sauste der kleine Hund auf den Flur, knurrte, kläffte, drehte sich um sich selbst und wusste nicht, wohin er sich wenden sollte.
Laura warf einen schnellen Blick auf Franco. Der war herumgefahren und hatte sich in eine Ecke geduckt. Plötzlich erinnerte er Laura an seinen Bruder.
«Lass los, Rana!», sagte Guerrini leise.
Der Alte schüttelte den Kopf. Noch immer hielt er sein Gewehr mit beiden Händen fest.
«Nehmen Sie es ihm weg, Commissario!», flüsterte Franco heiser. «Nehmen Sie es weg! Er will Giuseppe erschießen!»
Laura löste eine Hand vom Gewehr und schlug mit der Handkante auf den Unterarm des alten Mannes. Er stöhnte auf, sein Griff lockerte sich, Guerrini riss die Waffe an sich, warf sie auf den Boden, drehte einen Arm des Alten nach hinten und drängte ihn zurück in den Raum. Laura zog Puccis Pistole aus dem Hosenbund und richtete sie auf Franco.
«Los!», sagte sie. «Steh auf und geh da rein!»
Franco legte beide Hände schützend über seinen Kopf, als erwarte er Schläge. Der kleine Hund klemmte den Schwanz ein und näherte sich knurrend Lauras Beinen.
«Mein Gott, Franco! Ich tu dir nichts! Geh einfach da rein!» Laura wies auf die Tür, hinter der Guerrini und der alte Mann verschwunden waren.
Gebückt schlich Franco an ihr vorüber, noch immer mit den Händen seinen Kopf schützend. Laura folgte ihm, schubste ihn sanft auf einen Stuhl neben dem Fenster. Es waren nur zwei Stühle in dem kleinen Raum. Auf dem zweiten saß bereits der alte Rana. Außer den Stühlen gab es einen Tisch, einen Schrank und einen großen eisernen Herd. Guerrini lehnte mit dem Rücken am Schrank, die Arme vor der Brust verschränkt. Seine Pistole steckte im Schulterhalfter.
«Wo ist Giuseppe?», fragte er.
Laura betrachtete den Alten. Er glich einem knochigen Gnom mit zu langen Armen. Das einzig Üppige an ihm war sein dichtes weißes Haar. Die Augen waren klein, kaum zu sehen hinter einem Wulst von Falten
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