Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
umherstreift. Geistig Behinderte machen so etwas, und wenn mich nicht alles täuscht, war Vollmond, nicht wahr?»
«Aber die Spurensicherung hat keine anderen Abdrücke gefunden, nicht mal neben den Schleifspuren. Die Spuren der Deutschen, die Carolin Wolf gefunden haben, konnte man deutlich von älteren Spuren unterscheiden.» Guerrini stützte beide Ellbogen auf seine Oberschenkel und betrachtete seine gefalteten Hände.
«Es war trotzdem jemand da!», rief Granelli und wedelte aufgeregt mit einer Hand. «Jemand, der die Frau in das Versteck gezogen hat! Und was passiert, wenn du einen Körper hinter dir herschleifst?»
«Der Körper verwischt die Fußabdrücke!», erwiderte Laura langsam.
«Genau!», Granellis Augen blitzten triumphierend.
«Aber dann hätte der Körper auch Ranas Stiefelabdrücke verwischen können. Außerdem ist eine Besinnungslose sehr schwer. Rana ist kräftig. Ihm hätte es keine Mühe gemacht!»
Granelli runzelte missbilligend die Stirn, schaute dann auf seine Uhr und stand ein wenig mühsam auf. Erst jetzt sah Laura, wie klein er war.
Ein klein bucklig Männlein, dachte sie.
«Ich kann nur sagen, was mir aufgefallen ist!», brummelte er. «Den Täter müsst ihr suchen. Aber findet den Richtigen! Ich muss jetzt gehen, sonst mache ich meine Frau unglücklich.»
«Die Commissaria würde gern die Tote sehen!»
«Kann sie doch, kann sie doch! Sie liegt unten im Kühlfach und wartet auf euch. Ich kann euch leider nicht begleiten. Wenn ihr euch noch meine Trophäen ansehen wollt, dann tut das. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder! Arrivederci!» Erstaunlich behende lief er zwischen den Vitrinen hindurch zur Tür und war verschwunden, ehe sie seinen Gruß erwidern konnten.
«Das war Dottor Granelli!», lächelte Guerrini. «Er sagt nur, was nötig ist, hat immer sehr klare Vorstellungen und meistens Recht.»
«Haben Sie schon einmal erlebt, dass er Unrecht hatte?», fragte Laura und ging um den Schreibtisch herum zu den hohen Fenstern. Der Blick über die toskanische Landschaft war atemberaubend. Frisch gepflügte Felder tauchten die Hügel in ein warmes Rotbraun, das an manchen Stellen zu Ocker wurde.
Terra di Siena , dachte Laura, der Name der Farbmischung, die Mutter besonders gern für ihre Ölgemälde benutzt hat. Erde von Siena.
«Bisher nicht!», sagte Guerrini. Er stand neben ihr und schaute ebenfalls über das Land.
«Was?»
«Bisher habe ich nicht erlebt, dass er mal Unrecht hatte. Danach haben Sie mich doch gerade gefragt, Laura.»
«Ach so, ja», murmelte sie und folgte mit den Augen einer Reihe von Zypressen, die wie Ausrufezeichen einen Hügel vom Himmel trennten. Die Olivenbäume sahen von oben aus wie silbergrüne Schwämme, dicht und rund. Dorfnester drängten sich auf den Bergen zusammen, schmale Wege schlängelten sich zu ihnen hinauf.
«Sie waren lange nicht mehr hier, nicht wahr?», fragte Guerrini leise.
«Sehr lange», antwortete Laura und wandte sich um. «Gehen wir!»
«Keine Lust auf Granellis Gruselkabinett?»
«Nein! Ich werde auf den Boden schauen und ihren Füßen zur Tür folgen. Mir reicht der Anblick einer Leiche im Kühlfach. Ich brauche keinen eingeweckten Horror!»
Guerrini lachte leise und ging vor ihr zur Tür. Laura schenkte Granellis Gläsern keinen einzigen Blick und atmete auf, als sie wieder auf dem Flur standen.
«Als ich den Doktor zum ersten Mal besucht habe, wurde mir schlecht», gestand Guerrini. «Er hat mich nämlich herumgeführt und jedes Detail erklärt, der alte Schurke. Hinterher hat er mir einen Grappa eingeschenkt, der wie Formaldehyd schmeckte, und ich hatte den Verdacht, dass er mich auch präparieren wollte.»
Laura schüttelte sich und folgte ihm über endlose Treppen nach unten.
«Wollte er vielleicht auch. Aber ich finde, dass der Doktor ganz gut zu diesem Haus passt. Er ist der letzte Alchemist, ein Wiedergänger aus dem Mittelalter. Haben Sie schon eine seiner Vorlesungen gehört? Vielleicht lehrt er gar keine Pathologie, sondern Alchemie!»
«Möglich!», grinste Guerrini und hielt ihr eine schwere Eisentür auf, die zum Keller führte. «Davon abgesehen ist er aber einer der besten Gerichtsmediziner Italiens. Früher war er ständig auf internationalen Kongressen. Jetzt hat er keine Lust mehr dazu.»
Laura antwortete nicht. Sie spürte die plötzliche Kälte, das nackte Licht der Neonröhren. Der Totenkeller, dachte sie. Totenkeller sind überall gleich. Immer kalt, mit kaltem Licht und kalten Gängen und
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