Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
ein italienischer Kollege und wird schon ganz ungeduldig!»
«Lass die dummen Ausreden. Was ist das für ein Kerl? Will er sich an dich ranmachen? Pass auf! Deine Mutter hat immer gesagt, dass man italienischen Männern …»
«Es reicht, Vater. Ich liebe dich, ich küsse dich, und jetzt mach dir einen schönen Abend mit Baumann. Aber vorher legst du dich noch zu einem Mittagsschlaf!»
«Kann ich nicht. Luca will mich in einer halben Stunde besuchen!»
«Dann leg dich hinterher hin. Ciao!»
Laura drückte entschlossen auf den Knopf, der das Gespräch unterbrach, und schloss kurz die Augen.
«Familie?», fragte Guerrini mitfühlend.
«Mein Vater.»
«Oh!», lächelte Guerrini mit ernsten Augen. «Ich habe auch einen.»
I mHof der Abbadia war es unerträglich heiß. Selbst die Katzen hatten sich in den Schatten verzogen, kauerten unter den dichten Büschen der Nachtviolen, in Mauervertiefungen, unter den Autos, streckten erschlafft die Pfoten von sich. Katharina Sternheim lag auf dem schmalen Bett in ihrem Zimmer. Die Fensterläden waren geschlossen, sperrten die Hitze aus, verdunkelten den Raum. Siestazeit. Wie die Katzen hatten sich alle Mitglieder der Gruppe nach der Morgensitzung verkrochen.
Katharina schloss die Augen, lauschte den Schwalben, die auf der Telefonleitung über ihrem Fenster saßen, und fragte sich, was sie übersehen hatte. Es gab keinen Zweifel, dass sie etwas übersehen hatte. In dieser Gruppe lief etwas ab, was sie nicht fassen konnte. In der Vergangenheit hatte sie sich stets auf ihren Instinkt verlassen können. Aber diesmal … Sie legte einen Arm über die Augen, um auch das letzte bisschen Licht abzuschirmen, begann eine Atemübung, doch es gelang ihr nicht, die rastlosen Gedanken anzuhalten, die wie Blitze schmerzhaft durch ihren Kopf jagten.
Am meisten war sie über sich selbst beunruhigt. Die Bestürzung über Carolins Tod hatte sich in eine seltsame Lust auf Rache verwandelt. Ja, geradezu in eine Wonne, die Mitglieder der Gruppe gnadenlos zu ihrer inneren Wahrheit zu führen, ihnen allen den Spiegel vorzuhalten, bis sie zusammenbrechen würden, bis der Mörder sich offenbaren musste. Aber Katharina kannte sich selbst zu gut, um nicht zu spüren, dass noch etwas anderes hinter diesem unbezähmbaren Antrieb steckte, den sie seit Carolins Tod in sich trug. Es war … Sie erschrak so sehr, dass die verschwommene Ahnung sich in Nebel hüllte.
Ich muss schlafen, dachte sie. Ich brauche Ruhe. In zwei Stunden beginnt die Nachmittagssitzung. Wenn ich nicht schlafe, habe ich nachher zu wenig Kraft.
Sie konzentrierte sich auf den Atem, nur den Atem. Er strömte durch ihre Lungen, tief in ihren Bauch, bis zu den Zehen, entwich sanft, kehrte zurück. Atem ist Leben, dachte sie. Mit dem Atem kommen wir, mit dem Atem gehen wir. Im Atem finden wir Ruhe. Aus dem Atem wird unser Selbst geboren. All das hatte sie gelernt, bei vielen Meistern.
Katharina glitt in einen sanften Dämmerzustand, fuhr aber jäh zusammen, als ein Schlag durch ihren Körper fuhr, ein Gefühl zu stürzen.
«Mein Gott», flüsterte sie und richtete sich benommen auf. «Ich hasse sie. Alle. Ich hasse, wie sie mich aussaugen. Wie sie alle ihre Probleme auf mir abladen. Keiner von ihnen hat sich jemals die Mühe gemacht, sein Leben wirklich zu ändern. Sie suchen nur Bestätigung, dass sie nicht anders sein können!» Ihre Stimme wurde lauter, doch sie war sich dessen nicht bewusst. «Sie suhlen sich zwei Wochen lang in ihrer Verzweiflung und fahren dann nach Hause, um genau so weiterzumachen wie zuvor. Aber es geht ihnen besser, weil sie sich auf meine Kosten gesuhlt haben.»
Plötzlich hörte sie ihre eigene Stimme, die von den Wänden widerhallte, und verstummte erschrocken. Hatte jemand sie gehört? Rolf Berger und der geheimnisvolle Hubertus Hohenstein wohnten ebenfalls in diesem Seitentrakt des Klosters. Wieder durchfuhr eine Welle des Hasses ihren Körper. Dieser Berger provozierte sie, ließ sich auf nichts ein und schmolz ständig vor Selbstmitleid. Und Hubertus …? Er verbarg sich hinter einer Nebelwand. Verriet noch nicht einmal seinen Beruf.
Katharina rollte sich zur Seite und schaute auf den Wecker neben ihrem Bett. Fast drei Uhr. In einer Stunde würden sie sich wieder im Gruppenraum zusammenfinden. Sie fühlte sich zerschlagen. Es gab nicht einmal die Möglichkeit, das Ganze abzubrechen. Sie waren in diesem Kloster gefangen. Die Polizei hatte ihnen verboten abzureisen. Und die Gruppe hatte
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