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Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall

Titel: Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Felicitas Mayall
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beschlossen weiterzumachen. Alle hatten für diesen Aufenthalt bezahlt, also wollten sie auch den Gegenwert, egal, ob jemand zu Tode kam oder nicht.
    Katharina ließ sich wieder zurückfallen.
    Vielleicht, dachte sie, ist der Tod dieses Mädchens ein Zeichen. Nichts geschieht ohne Grund. Auch das hatten die Meister immer wieder betont. Vielleicht musste sie, Katharina, diese Gruppe von Menschen zur Wahrheit führen, durfte es nicht zulassen, dass sie sich suhlten.
    Seit Carolins Tod beobachtete sie jeden einzelnen genau, suchte Anzeichen von Schwäche oder Schuld. Sie war sicher, dass Rolf Berger eine sexuelle Beziehung zu Carolin gehabt hatte, und nicht nur zu ihr. Berger war in München Katharinas Patient. Einzeltherapie. Sie kannte seine Sucht nach Frauen. Er schreckte nicht einmal davor zurück, der krebskranken Rosa den Hof zu machen, flirtete mit der Krankenschwester Britta, ließ nur Monika, die burschikose Sekretärin, links liegen, was diese offensichtlich schmerzte, und behandelte Susanne, die Steuerbeamtin, auf eine sehr verletzende Weise ablehnend. Susanne war in diesem Spiel die eiskalte Beobachterin. Kannten sich die beiden? Katharina war sich nicht sicher. Und wo stand Hubertus? Er beobachtete ebenfalls, eher staunend, wie jemand, dem das Leben fremd ist, der aus einem tiefen Schlaf erwacht. Ein grauhaariger Gentleman mit gut verborgenem Lebenshunger. Wie er Carolin manchmal angesehen hatte …
    Was war mit Britta und Monika? Britta schien ziemlich selbstbewusst und ließ Berger auf eine Weise abblitzen, die Katharina amüsierte. Ihn schien Brittas Art zu reizen, jedenfalls gab er nicht auf. Monika war ein eher harmloser Mensch, litt ständig an sich selbst und den anderen. Fühlte sich nicht in die Gruppe integriert. Und Rosa?
    Der Atem. Ich vergesse den Atem, dachte Katharina. Ich vergesse, was ich meinen Klienten ständig einbläue. Sie zählte bis sieben, machte eine winzige Pause, wieder sieben. Einatmen, ausatmen.
    Rosa, die Malerin, die vor dem Tod davonlief, direkt in Bergers Arme. Katharina hatte die beiden gesehen, in enger Umarmung, hinter den großen Schirmpinien auf der Nordseite der Abbadia.
    Ich will sie nicht sehen, dachte Katharina. Keinen von ihnen. Ich sollte sie lieben und verstehen, aber ich kann es nicht. Liebte sie Carolin, die tote Carolin? Nein, nicht einmal sie. Carolin war stark gewesen, so heftig in ihren Wutausbrüchen, dass Katharina sie kaum halten konnte. Ihre Beziehung zu Berger war Ausdruck dieser Destruktivität, die bis zur Selbstzerstörung reichte. Sie war von einer ähnlichen Sucht besessen wie Berger – der Sucht nach Eroberung und Selbstbestätigung, nach jedem Mann, der in ihre Nähe kam.
    Atmen, vergiss den Atem nicht! Tief in den Leib und sanft wieder hinaus. Katharina setzte sich auf und kreuzte die Beine, versuchte zu meditieren. Es gab ein höheres Selbst, das ihr bisher stets geholfen hatte. Sie musste nur das Seil in die Hand nehmen, das dieses Wesen stets für sie bereithielt. Mit geschlossenen Augen, atmend, das Seil ergreifen und um Hilfe bitten, um Erleuchtung. Das Seil war da, sie fühlte es.
    «Hilf mir, meinen Hass zu überwinden. Hilf mir, diese Menschen zu sich selbst zu führen!», flüsterte sie, ließ das Seil fahren und sank auf die Matratze zurück.
    Das Schrillen des Weckers schreckte sie auf. War sie eingeschlafen? Zehn vor vier. Sie musste sich schnell frisch machen, durfte die anderen nicht warten lassen. Hatte sie Kraft? Sie wusste es nicht, war zu benommen. Bürstete einfach ihr Haar, wusch das Gesicht mit kaltem Wasser, zog eine frische Bluse an.
    Drei vor vier. Katharina starrte in den Spiegel, über dessen Ränder sich blinde Schwären ausbreiteten, die sie an eine ansteckende Krankheit erinnerten. An Pocken oder Lepra.
    Von draußen drang das Geknatter eines Mopeds herein, verstummte unter ihrem Fenster.
    Wahrscheinlich ein Bauer, der telefonieren wollte. Sie stand ein paar Sekunden lang mit hängenden Schultern vor der Zimmertür, richtete sich endlich auf und legte die Hand auf die Klinke.
    «Du hast die Kraft!», flüsterte sie tonlos. «Du wirst die Kraft haben. Du hast sie immer gehabt. Warum sollte sie dich jetzt verlassen?»
    Sie kniff die Augen zusammen, öffnete die Tür und trat in den kühlen Flur hinaus. Ihre Beine bewegten sich. Sie würde die Treppe hinuntergehen, auf den heißen Hof hinaus, vielleicht eine Katze streicheln. Sie würde den  Hof überqueren, die Treppe zur Loggia hinaufsteigen, die große alte

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