Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
Polizistin will dich sprechen!»
«Mich?» Rosa wich einen halben Schritt zurück.
«Ja, dich. Ich bin nicht damit einverstanden, nicht jetzt – aber gegen die Polizei kann man wenig ausrichten.»
Rosa sah verwirrt aus.
«Ich kann nicht», sagte sie leise. «Nicht jetzt. Ich brauche diese Zeit mit den anderen. Sie würden mir wichtige Stunden stehlen … Können Sie das verstehen?»
Lauras Augen begegneten Rosas. Die Augen der Malerin waren müde und seltsam fern, als sähe sie hinter Laura oder durch sie hindurch etwas, das für andere unsichtbar war.
«Ist gut», sagte Laura leise. «Wir können das morgen nachholen.»
Katharina nickte ihr zu und schloss die Tür. Gleich darauf hörte Laura das zarte Geräusch einer Glocke. Der Kokon hatte die Gruppe eingehüllt. Laura blieb einen Augenblick stehen, und ihre eigenen Erfahrungen mit Gruppen wurden plötzlich lebendig. Hinter dieser Tür saßen jetzt sieben Menschen und versanken in Meditation. Einigen von ihnen würde es nicht gelingen, weil sie Angst hatten, weil die Ereignisse der letzten Tage nicht gut für Selbstvergessenheit waren. Trotzdem hätte Laura gern bei ihnen gesessen und diesen Moment wieder erlebt, wenn alle still wurden. Wie lange hatte sie schon nicht mehr meditiert? Zwei Jahre mindestens. Dabei hatte sie sich vorgenommen, es regelmäßig zu tun.
Sie schüttelte den Kopf und ging langsam die Stufen der ausgetretenen Steintreppe hinunter. Und jetzt? Vier Uhr und nichts zu tun. Der Kies auf dem Innenhof war hell und heiß. Laura folgte dem Weg, der nach Buonconvento führte, dann überquerte sie einen Acker, entdeckte einen schmalen Pfad, an dessen Rändern blaue Wegwarten leuchteten, erreichte ein kleines Wäldchen aus Steineichen und Edelkastanien und fand sich plötzlich am Bett des ausgetrockneten Bachs wieder, ein Stück westlich der Stelle, an der Carolin gefunden worden war. Sie wusste nicht, warum sie so weit gegangen war. Vielleicht, dachte sie, hat es etwas damit zu tun, dass ich schon lange nicht mehr einfach gegangen bin – ohne Ziel und ohne Absicht.
Unter den dichten Bäumen war es angenehm kühl, dunkelgrün und feucht. Die Geräusche des Spätsommernachmittags drangen nur gedämpft herein – Zikaden, Tauben. Laura setzte sich im Schneidersitz auf eine Sandbank, richtete die Wirbelsäule auf und legte ihre geöffneten Hände auf die Knie. Sie atmete tief in den Bauch. Gedankenfetzen flogen vorüber, zusammenhangslos, fast verwerflich, Dinge wie: Ich muss nicht nach Hause rasen, um schnell was zu kochen. Warum will ich Guerrini eigentlich erst morgen Abend treffen? Es ist gut, dass Vater achthundert Kilometer weit weg ist. Aber ich liebe ihn. Berger ist ein Egomane – diese Britta Wieland im Grunde auch. Was bin ich?
Die Gedanken zogen vorüber, wurden allmählich weniger aufdringlich, verebbten, und gerade, als Laura in einen Zustand innerer Ruhe versank, schrillte das Handy an ihrem Gürtel. Sie ließ die Schultern sinken und lachte los. Dann drückte sie auf das Knöpfchen und sagte: «Hallo, Papa!»
«Eigentlich finde ich nicht, dass ich Ihr Vater sein könnte», antwortete Guerrini. «Der Altersunterschied ist irgendwie zu knapp!»
«Entschuldigung … Ich war halb eingeschlafen und … es ist meistens mein Vater, der in solchen Momenten anruft.»
Guerrini lachte leise.
»Sie schlafen? Ich dachte, deutsche Polizeibeamte wären sehr, sagen wir … aktiv.»
«Schlafen ist auch falsch. Ich sitze an dem geheimnisvollen Bach und denke nach, meditiere.»
«Ist das eine neue Ermittlungstechnik?» Wieder lachte Guerrini leise.
«Ja», erwiderte Laura. «Manchmal ist sie sogar sehr effektiv!»
«Wie wäre es, wenn ich Sie doch heute Abend zum Essen abholen würde. Dann könnten Sie mir von den Ergebnissen Ihrer Meditation erzählen … ich müsste auch etwas loswerden.» Guerrinis Stimme klang plötzlich sehr ernst.
«Wichtig?», fragte Laura.
«Wichtig!», entgegnete er.
«Gut. In zwei Stunden?»
«In zwei Stunden.»
Er hatte aufgelegt. Laura steckte das Telefon an ihren Gürtel zurück und stand auf. Sie war froh, dem Abendessen mit der Gruppe entgehen zu können. Es war nicht besonders professionell, aber ein Essen mit Guerrini erschien ihr wesentlich verlockender als das beklommene Schweigen an der Tafel der Abbadia. Sie hatte Zeit. Und Zeit bedeutete mehr Druck auf die Gruppe.
Laura folgte dem Bachbett, betrachtete die Spuren im Sand – Abdrücke von Vogelfüßen, Stachelschweintatzen, Hasenpfoten?
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