Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
freizulassen?»
Guerrini schaute so schnell von seinem Weinglas auf, dass Laura seinen Augen nicht ausweichen konnte.
«Diese kleinen Faschisten im Gefängnis haben ihn grün und blau geschlagen! Das ist es, was ich Ihnen erzählen wollte!»
Laura antwortete nicht, hielt nur Guerrinis Augen stand.
«Warum sagen Sie nichts?», fragte er.
«Weil ich … Es gibt keine Antwort darauf. Soll ich sagen, dass es mir Leid tut? Oder: Wie schrecklich! Klingt falsch und lau, und Sie wissen das, Angelo!»
Er griff plötzlich entschieden nach ihrer Hand.
«Aber Sie müssen doch auf so etwas reagieren, Laura. Was empfinden Sie, wenn Sie hören, dass ein geistig Behinderter in einem europäischen Gefängnis geschlagen wird!»
Laura schaute noch immer geradewegs in Guerrinis Augen, schluckte, denn ihre Kehle fühlte sich rau an.
«Abscheu!», flüsterte sie. «Ich empfinde Abscheu, Wut, Hass. Ich würde die Kerle vor Gericht bringen, und wenn es mich meinen eigenen Job kostete. Solche Dinge passieren nicht nur in italienischen Gefängnissen, Angelo. Bei uns werden zum Beispiel Asylbewerber in Abschiebehaft geprügelt und in den Selbstmord getrieben – rechtsradikale Schläger auf wunderbare Weise entlassen.»
«Es ist überall so, nicht wahr? Und jetzt möchte ich wissen, warum Sie trotzdem bei der Polizei sind! Sie wollten es mir doch erklären, oder?» Der Druck seiner Hand wurde stärker.
Laura lehnte sich zurück und schloss kurz die Augen.
«Als ich zur Kripo ging, war ich noch ziemlich idealistisch. Damals wäre ich am liebsten eine Jüdin gewesen, die mit einem Schwarzen verheiratet ist. Bloß in keine Schublade passen, verstehen Sie, Angelo. Schlichte Reaktion auf die deutsche Vergangenheit. Ich wollte für Gerechtigkeit sorgen, ein bisschen Heldin sein. Nicht nur mit Paragraphen, wie mein Vater, sondern ganz nah dran an der Realität!»
Ein leises Lächeln zuckte um Guerrinis Mundwinkel.
«Und heute?»
«Etwas davon ist noch immer da … nur weniger leidenschaftlich. Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich älter geworden bin. Mich interessieren inzwischen mehr die Motive der Menschen, die Beziehungen, die zu Katastrophen führen … im Kleinen wie im Großen.»
Guerrini ließ Lauras Hand los, als die Köchin eine große Platte mit Crostini auf den Tisch stellte.
«Meine besten!», sagte sie, stemmte stolz ihre Fäuste in die Hüften und blieb erwartungsvoll stehen, bis ihre Gäste endlich den ersten Bissen in den Mund schoben, Crostini mit Gänseleber und Trüffeln.
«Mmmh», machte Laura und nickte der Köchin zu. «Buonissimo» , murmelte Guerrini mit vollem Mund.
Die Köchin lächelte, nickte zufrieden und machte eine Handbewegung zur Decke oder eher zum Himmel.
«Ist wie ein Geschenk von dem da, was? Gibt keine Besseren in der ganzen Toskana!»
«Nein», grinste Guerrini und tupfte seinen Mund mit der Serviette ab. «Aber du bist die Göttin!»
Die dicke junge Frau lächelte und drehte sich verschämt murmelnd weg: «Versündigen Sie sich nicht, Commissario!», verschwand in der Küche.
«Ich habe auch voll Idealismus angefangen!» Guerrini war wieder ernst. «Ein bisschen naiv, im Glauben, die Korruption in Italien aufzudecken. Dann wurde ich aus Florenz in die Provinz versetzt, weil ich ein paar Mal zu nah an wichtigen Persönlichkeiten dran war. Jetzt bin ich bescheidener, aber erfolgreicher. Die kleinen Betrüger und Mörder haben keine so mächtige Lobby.»
«Klingt nach Resignation», erwiderte Laura leise und leckte mit der Zungenspitze ein wenig Gänseleberpaste von dem knusprigen Brot.
«Ist es auch, vielleicht auch Einsicht in die tieferen Zusammenhänge. Sehen Sie, wenn ein Volk einen Mann zum Ministerpräsidenten wählt, der ganz eindeutig ein Betrüger mit mafiosen Geschäftspraktiken ist, dann ist das ein Signal. Es bedeutet, dass alle, die diesen Mann wählen, der Überzeugung sind, dass ein Krimineller den Laden besser schmeißt als ein anständiger Mensch. Und meiner Meinung nach bedeutet es außerdem, dass diese Wähler selbst korrupt sind, selbst krumme Geschäfte machen und nichts dabei finden, sich auf halblegale Weise durchs Leben zu schwindeln.»
«Amen!», sagte Laura und hob Guerrini ihr Glas entgegen.
Einen Moment lang sah es so aus, als würde er ärgerlich werden, doch dann lächelte er und stieß mit ihr an.
«Amen!»
«Und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?», fragte sie.
«Ich weiß nicht genau … ich mache meinen Job, bis ich an die Grenzen stoße,
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