Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
seinen Armen.
«Hier ist es gut!», wiederholte er.
«Zu Hause ist es auch gut, Giuseppe. Vielleicht hat deine Mutter was Besseres gekocht als diese Pizza. Sie wartet auf dich, meinst du nicht?»
Giuseppe schüttelte den Kopf.
«Sie schreit!», sagte er. «Wie meinst du das?»
«Sie schreit! Da drin …» Der Junge schlug mit der flachen Hand gegen seinen Kopf. «Da drin schreit sie. Die ganze Zeit.»
Guerrini warf Laura einen ratlosen Blick zu.
«Vielleicht sollten wir nachsehen, ob sie wirklich schreit, Giuseppe», sagte er. «Vielleicht schreit sie nur, weil du nicht da bist!»
Und tatsächlich. Er nickte plötzlich und stand auf. Nickte, kam zum Wagen und setzte sich auf den Rücksitz.
«Schreit, weil ich nicht da bin!», murmelte er.
Guerrini und Laura stiegen schnell ein, und Laura lenkte den Wagen zur Straße zurück. Je näher sie dem Hof kamen, desto unruhiger wurde der Junge. Stöhnte, schlug mit der Hand auf den Sitz, schnitt Grimassen. Laura fuhr langsamer. Guerrini erklärte den Weg. Sie querten einen Zypressenhain, fuhren durch abgeerntete Felder und Macchia, endlich, ganz am Ende der schmalen Schotterstraße, tauchte der Hof der Ranas auf.
Klein und verloren lag er in der weiten Landschaft, beschützt von ein paar Bäumen, zwei Edelkastanien, einem Kirschbaum, drei Aprikosenbäumchen. Daneben zwei Heuhaufen, wie es sie kaum noch in der Toskana gab. Rund, fest und hoch um eine Stange geschichtet. Zwei weiße Kühe grasten zwischen jungen Ölbäumen. Als sie im Schritttempo auf den Hof fuhren, flüchteten schwarze Hühner und Laufenten mit ihrem seltsamen Clownsgewatschel. Ein Hund bellte, erwürgte sich fast an seiner Kette.
Laura hielt den Wagen vor dem Wohnhaus an. Der Hof wirkte so verlassen wie alle italienischen Bauernhäuser, schien nur von Tieren bewohnt. Einige Minuten blieb es still. Giuseppe hielt den Kopf schief und lauschte. Niemand schrie. Dann bewegte sich der grüne Fliegenvorhang aus Plastikschnüren in der Tür, eine schwarze kleine Gestalt wurde sichtbar, erst halb, dann ganz. Ranas Mutter beschattete ihre Augen, um gegen die tief stehende Sonne sehen zu können. Erst schien sie nicht zu begreifen, wer da auf ihren Hof gefahren war. Plötzlich schrie sie, schrie zu allen Heiligen, zur Madonna, bekreuzigte sich und machte Anstalten, sich auf die Knie fallen zu lassen. Giuseppe zuckte zusammen und verkroch sich zwischen den Sitzen.
Laura sah Guerrini mit großen Augen an.
«Er hatte verdammt Recht. Sie schreit!»
Guerrini sprang aus dem Wagen, packte die alte Frau an beiden Schultern und schüttelte sie.
«Hören Sie auf!», herrschte er sie an. «Ihr Sohn ist da drin! Er ist frei, kommt nach Hause. Aber er kann Ihr Geschrei nicht ertragen!»
Sie verstummte, als hätte er sie abgeschaltet. Dann machte sie sich los, ging mit kleinen Schritten um das Auto herum und starrte durch die Fenster ins Wageninnere.
«Der Madonna sei Dank», flüsterte sie. «Der Madonna und allen Heiligen!»
Jetzt erschien auch Giuseppes Bruder in der Tür.
«Franco! Komm her! Giuseppe ist wieder da!» Sie schrie schon wieder.
«Ssscht!», machte Guerrini.
Franco kam über den Hof, betrachtete misstrauisch den Wagen und den Commissario.
«Ist das wahr?», fragte er.
«Ja, es ist wahr. Wir haben ihn frei bekommen. Aber es ist sozusagen auf Bewährung. Sie müssen gut auf ihn aufpassen.»
Franco nickte. Er trat neben seine Mutter und öffnete die hintere Tür des Lancia.
«Komm raus, Giuseppe. Schön, dass du wieder da bist!» Seine Stimme klang rau.
«Mama schreit!», flüsterte Giuseppe.
«Sie schreit nicht mehr. Das war nur die Freude! Komm raus, Giuseppe!»
Laura hielt den Atem an. Sie spürte eine leise Bewegung hinter ihrem Sitz, schaute in den Rückspiegel und sah, wie Giuseppe sich langsam aufrichtete und endlich aus dem Wagen kroch. Franco nahm seinen Arm, die alte Frau betastete ihn, starrte in sein Gesicht.
«Sie haben dich geschlagen, mein Junge», flüsterte sie. «Sie haben dich geschlagen! Dafür sollen sie in der Hölle braten. Meinen Vater haben sie auch geschlagen! Die Faschistenbrut! Sie sind immer noch da!»
Guerrini senkte den Kopf.
«Ja, sie haben ihn geschlagen, Signora. Und sie sollen in der Hölle dafür braten. Aber erst einmal werde ich sie hier auf Erden zur Verantwortung ziehen. Es war nicht einfach, Ihren Sohn aus der Untersuchungshaft frei zu bekommen. Ich … möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Es klingt dumm, aber ich meine es so.»
Ranas Mutter
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