Nacht der Stachelschweine: Laura Gottbergs erster Fall
sah ihn nicht an. Sie murmelte unverständliche Sätze, bekreuzigte sich mehrmals. Die flachen Sonnenstrahlen zeichneten jede Falte ihres zerfurchten Gesichts nach. Sie mochte sechzig sein, siebzig oder achzig.
Nein, nicht älter als fünfundsechzig. Giuseppe war vermutlich ein spätes Kind.
«Gehen Sie, Commissario», sagte Franco. «Wir danken Ihnen, dass Sie Giuseppe zurückgebracht haben. Aber gehen Sie jetzt!»
Guerrini nickte, öffnete die Wagentür.
«Sorgen Sie dafür, dass Giuseppe nachts nicht mehr herumläuft!» Guerrini zögerte. «Der Untersuchungsrichter ist kein besonders angenehmer Mann. Er wird Ihren Bruder wieder einsperren, wenn es nur den geringsten Vorfall gibt.»
Franco legte den Arm um Giuseppe.
«Es wird nicht leicht werden, Commissario. Aber ich werde es versuchen. Giuseppe ist wie die wilden Tiere da draußen. Er muss seiner Wege gehen.»
«Ja», murmelte Guerrini. «Ich weiß. Aber ich muss euch warnen. Und ich mache das, um euch zu helfen, nicht um euch Angst zu machen. Ich wüsste trotzdem gern, was du heute Morgen am Bach gemacht hast, Franco. Sag nicht, dass du nicht dort warst. Die Commissaria hat dich gesehen!»
Franco kratzte sich nervös am Ohr.
«Ach», sagte er. «Ich hab mich nur umgesehen. Ich wollte nachsehen, ob ich nicht eine Spur von diesem Mörder finden kann. Ich kenn mich mit Spuren aus.»
«Hast du was gefunden?»
Franco schüttelte den Kopf. Als Laura den Wagen wendete, standen die drei mitten auf dem Hof, so nahe beieinander, dass ihr langer Schatten aussah, als seien sie eine Person, eine mit Auswüchsen und Buckeln, ein missgestalteter Riese.
«Und jetzt?», fragte Guerrini, als Laura den Wagen langsam über den löcherigen Weg steuerte.
«Jetzt fahren wir zur Abbadia und sagen der Gruppe, dass Rana aus dem Gefängnis entlassen wurde.»
Guerrini seufzte.
«Und dann?», fragte er.
«Ich weiß nicht.»
«Sie sind mir noch eine Antwort schuldig.»
«Sie auch, Commissario.»
Guerrini zuckte die Achseln. Sie hatten inzwischen die Abzweigung zum Kloster erreicht, fuhren den Hügel hinauf, und Laura ließ den Wagen im Innenhof ausrollen. Katharina Sternheim saß auf der Veranda und erhob sich, als sie Laura und Guerrini erkannte. Sonst war niemand zu sehen.
«Wo sind denn die anderen?», rief Laura zu ihr hinauf.
«Ich habe sie weggeschickt. Sie sollen nachdenken. Wir haben das Abendessen verschoben. Es war ein langer, anstrengender Tag.»
«Ja, das war es. Ich bin nur kurz hier, um Ihnen zu sagen, dass der junge Bauer wieder entlassen worden ist. Der Verdacht gegen ihn hat sich nicht bestätigt. Mein Kollege und ich müssen gleich noch einmal weg. Es gibt eine Menge zu tun.»
Katharina beugte sich über die Verandabrüstung.
«Gibt es … ich meine, haben Sie einen neuen Verdacht?» Ihre Stimme kippte in diesen hohen kindlichen Lispelton, den Guerrini kannte.
«Wir ermitteln in einer bestimmten Richtung», erwiderte Laura.
«Es hat mit der Gruppe zu tun, nicht wahr?» Katharina kam ein paar Schritte die Treppe herunter.
«Vielleicht», antwortete Laura ausweichend.
«Sie vertrauen mir nicht!» Katharina blieb stehen und sah auf Laura und Guerrini herab.
«Das hat nichts mit Vertrauen zu tun», sagte Laura. «Was für einen Sinn würde es haben, wenn ich Ihnen von Ermittlungen erzählte, die noch nicht abgeschlossen sind.»
Katharina überlegte, strich eine Haarsträhne zurück, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatte.
«Ich könnte Ihnen helfen», murmelte sie schließlich. «Ich habe meine eigenen Wege, die Wahrheit zu finden. Die Wahrheit kommt, wenn ich ihr den Weg öffne, ganz von selbst …»
«Sie können uns tatsächlich helfen! Augenblicklich genügt es, wenn Sie den Mitgliedern der Gruppe sagen, dass Giuseppe Rana frei ist. Könnte sein, dass das bereits der Wahrheit den Weg bahnt.»
Katharina sah Laura unverwandt an, lächelte kaum merklich.
«Haben Sie sich genau überlegt, welche Wahrheit Sie haben wollen? Es könnte einen völlig anderen Weg öffnen. Haben Sie genügend Phantasie, um sich in Menschen einzufühlen, Frau Kommissarin?»
Laura wich Katharinas Blick nicht aus.
«Ich hoffe!», antwortete sie. «Ich hoffe, aber ich weiß es nicht. In meinem Beruf muss man Risiken eingehen und Versuche machen … genau wie in Ihrem, Katharina.»
«Ich hoffe nur, es ist kein zu großes Risiko!» Katharina sprach so leise, dass Laura sie nur mit Mühe verstand.
«Wie meinen Sie das?»
«Es ist … so ein Gefühl. Nur eine
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