Nacht der Vampire
nicht mehr — oder würde zumindest so tun. Kurz entschlossen stieg er die Stufen zur Leihbibliothek hinauf. Sein Stolz erlaubte ihm kein Zögern. Außerdem galt sein Besuch nicht ihr allein, sagte er sich. Aus rein beruflichem Interesse wollte er jene Bücher über Okkultismus lesen, von denen Ward am Vormittag gesprochen hatte. Durch sie gelangte er vielleicht zu einem besseren Verständnis der Mentalität dieser Stadt, die er einstmals so gut gekannt hatte.
Energisch trat er ein. Der typische Bibliotheksgeruch schlug ihm entgegen, eine Mischung aus Möbelpolitur und vergilbtem Papier.
Aus einer Tür, die offenbar in ein Büro führte, kam eine junge Frau. Ihr blondes Haar lag als dicker Zopf wie eine Krone um ihren Kopf. Sie trug eine dünne weiße Bluse und einen grauen Leinenrock. Ihre Augen waren grün, und sie hatte jene zarten Züge, die immer jung und unschuldig wirken.
Sie lächelte, legte ihre Hand auf die seine, mit der er sich jetzt auf den Schreibtisch stützte, und sagte: »Hallo, Duffy.«
Er sah sie an und dachte staunend: Ich habe sie wieder gefunden. Und kann nie mehr von ihr lassen.
7
»Wie geht es dir? . . .«
»Ich hörte, daß du hier bist . . .«
»Du hast dich gar nicht verändert. . .«
Bei den üblichen Höflichkeitsfloskeln legte sich sein Schock, aber ein bißchen außer Atem blieb er trotzdem. Sein Blick zeichnete jede wohlbekannte Linie ihres Mundes, des Kinns und der Wangen nach. Er kannte sie seit langem. Dennoch war sie völlig neu für ihn. Wie konnte sie jenes sechzehn- oder siebzehnjährige Mädchen sein . . .? Wie alt war sie jetzt — neunundzwanzig — dreißig? Sie war ein auffallend hübsches Mädchen gewesen. Jetzt war sie eine voll erblühte Schönheit.
Und sie hat sich ihre Unschuld bewahrt, dachte er. Sie sprach aus ihren klaren grünen Augen, aus ihrem offenen Blick.
Dabei wußte er, daß er sich irren mußte.
Bestimmt war sie selbst damals nicht halb so unschuldig gewesen, wie er angenommen hatte, und seither mußte auch der Rest Unschuld dahin sein. Tausendmal hatte er sich gesagt, daß sie nicht minder verdorben gewesen war als die anderen Mitglieder des Zirkels, sonst hätte sie niemals mitgetan. Mit solchen Überlegungen beschwichtigte er sein Gewissen. Wegen der anderen Teilnehmer hatte er niemals Gewissensbisse. Als er Lily jetzt in die strahlenden, grünen Augen sah, die unberührt aus allen Erlebnissen hervorgegangen zu sein schienen, mußte er sich eingestehen, daß Lily ihn einmal geliebt hatte. Und nur aus Liebe zu ihm hatte sie eingewilligt, dem Geheimbund beizutreten.
Er hatte sie verdorben.
Seine Stimme versagte. Nur mit einiger Mühe gelang es ihm, weiterzusprechen.
»Ich möchte mit dir reden, Lily.«
»Wir können uns in mein Büro setzen —«
»Nein, nicht hier.« Eine neutrale Umgebung, wo sie ungestört blieben, war ihm lieber. »Kannst du nicht fort von hier?«
»Augenblick. Warte hier auf mich.«
Lily eilte ins Büro. Sekunden später kehrte sie lächelnd zurück und zog ihre graue Leinenjacke über. »Gehen wir«, sagte sie.
Duffy hatte sich noch immer nicht restlos mit der neuen Situation abgefunden. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß diese Frau wirklich jene Lily Bains war, die er gekannt hatte. Nach den ausschweifenden Spielen vor dreizehn Sommern hätte sie erfahrener, härter, abgebrühter aussehen müssen, kurzum, irgendwie verändert. Ihre engelhafte Unschuld war ihm unbegreiflich.
Jener Zeitabschnitt stand ihm plötzlich in aller Deutlichkeit vor Augen. Er erinnerte sich an den Herbst seines letzten Jahres an der Oberschule, als er den Höhepunkt seiner Pubertät mit all ihren Sehnsüchten und Wünschen erlebt hatte. Anfangs hatte das Angenehme vorgeherrscht. Die meisten seiner Schulkollegen hatten sich ihre Mädchen gesucht. Er war keine Ausnahme gewesen. Zwei Jahre lang hatte er eine rothaarige, unnahbare Schöne aus der Ferne bewundert und sich für einen Glückspilz gehalten. Er war überzeugt, daß er nie wieder einem derart schönen, klugen, reinen und keuschen Mädchen begegnen würde. Knapp vor Weihnachten aber hatten dann ihre Eltern sie schleunigst mit dem Sohn des Gesellschafters seines Vaters verheiratet.
»Tut mir leid, Duffy«, hatte sie dem Jungen gelassen eröffnet, der sie nie berührt hatte und für unerreichbar hielt, »aber früher oder später hättest du es ja doch erfahren, falls du dir’s nicht schon gedacht hast — ich bin schwanger.« Schadenfroh sah sie ihn an.
Für den Rest des
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