Nacht der Vampire
zu. Ständig verfolgte ihn das Gefühl, beobachtet zu werden. Trotzdem sah er keinen Bekannten und wurde von niemandem gegrüßt.
Wie Duffy erwartet hatte, traf er Zachary im Speisesaal des Hotels. Er saß allein an einem Tisch. Die Mittagszeit war vorbei, und nur wenige Tische waren besetzt. An drei oder vier Tischen jedoch verstummte bei Duffys Eintritt das Gespräch, und die Leute renkten sich die Hälse nach ihm aus.
»Der reinste Spießrutenlauf«, bemerkte Duffy, ließ sich auf einen Stuhl fallen und winkte dem Kellner ab. »Ich bin nur froh, daß ich Roxanne nicht mitgenommen habe. Anderseits weiß ich sie auch nicht gern allein.«
»Sie ist bestimmt nicht in Gefahr; zumindest nicht, solange es hell ist.«
»Feiner Trost. Hast du etwas erfahren?«
Zachary war bereits beim Kaffee angelangt. »Kaum. Bonnie hat die Bar tatsächlich mit Tal Grennis verlassen. Ich habe mich mit dem Hoteldirektor unterhalten, der gestern abend erst spät zu Bett gegangen ist. Er hat Tal mit Bonnie ins Hotel kommen sehen. Tal hat Bonnie im Lift nach oben begleitet und kam gleich darauf zurück.«
»Wie sich das für einen Kavalier wie Talbot Grennis schickt«, sagte Duffy. »Mir bleibt nur unerklärlich, warum Bonnie noch spät nachts das Hotel verlassen haben und ganz allein in den Wald gegangen sein soll.«
»Das ist eine gute Frage.«
»Es wäre natürlich denkbar«, fuhr Duffy nachdenklich fort, »daß sie einfach zeitig erwachte und frische Luft schöpfen wollte.«
Zachary schüttelte den Kopf. »Ich sprach mit dem Arzt, der sie untersuchte. Seiner Meinung nach war sie zu diesem Zeitpunkt schon fünf bis sechs Stunden tot. Das heißt, daß sie ungefähr gegen drei Uhr früh starb — also kurz nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte. Der Direktor sagte, Bonnie wurde gestern nacht, nachdem sie ins Hotel gekommen war, noch angerufen. Er selbst hat den Anruf übernommen.«
»Aber er hat natürlich nicht mitgehört.«
»Natürlich nicht. Er weiß bloß, daß der Anrufer eine Frau war.«
Duffy starrte Zachary an. Er wußte genau, wie diese Tatsache von vielen Leuten ausgelegt würde. Roxanne Sanscoeur Johnson war gestern abend hier angekommen, hatte Bonnie Wallace sofort angerufen und sie zu einem nächtlichen Waldspaziergang überredet, und dann .. . Eine äußerst fadenscheinige Theorie, aber es gab immer genügend Leute, die solche Geschichten gerne glaubten.
»Hat der Mann Bonnie weggehen sehen?«
»Nein.«
»Du bist schon länger hier als ich. Traust du den Leuten zu, daß sie sich in ihrer Gehässigkeit zu mehr als ein paar niederträchtigen Anrufen hinreißen lassen?«
»Möglich wäre es.«
»Das ist keine Antwort.«
Zachary seufzte. »Am besten, ihr reist ab, Duffy. Kommt im nächsten Jahr wieder.«
Duffy schüttelte den Kopf. Was sollte er dazu sagen? Doch nicht, daß seine Ehe einen solchen Aufschub nicht mehr vertrug; und noch weniger, daß Roxanne bis zum nächsten Jahr vielleicht schon rettungslos ihren Wahnvorstellungen ausgeliefert war und sich tatsächlich für einen Werwolf hielt.
Zachary betrachtete Duffy neugierig und wartete auf eine Antwort. Duffy ließ ihn warten.
»Du verständigst mich, wenn du etwas Neues hörst, ja?« sagte er statt dessen.
»Gerne. Ich bin nämlich der Ansicht, daß wir verbliebenen Fünf unbedingt in Kontakt bleiben sollten.«
Zu seiner Überraschung nickte Duffy. Mein Gott, dachte er, glaube ich denn doch an jene Schwüre . . .?
Auch als er den Speisesaal verließ, reckten sich wieder einige Köpfe, und verstohlene Blicke folgten ihm nach. Eine Serviererin musterte ihn dreist und unverhohlen.
Im Auto herrschte eine Backofenhitze. Duffy öffnete sämtliche Fenster, ließ den Motor an und lenkte den Wagen ins Wohnviertel der Stadt. Eine sonderbare Erregung befiel ihn. Mit dem Mord an Bonnie Wallace hatte sie nichts zu tun, weil er in diesen Seitenstraßen nicht länger das Gefühl hatte, erkannt und beobachtet zu werden. Und mit seinem nächsten Ziel hatte diese Spannung erst recht nichts zu tun, sagte er sich.
Unweit der öffentlichen Leihbibliothek stellte er sein Fahrzeug ab.
Es war natürlich möglich, daß er Lily Bains gar nicht vorfinden würde. Im Grunde wäre er darüber nur froh gewesen. Sie war eine hübsche, grünäugige Blondine mit guter Figur gewesen. Allerdings idealisierte er sie vielleicht bloß in seiner verschwommenen Erinnerung. Am Ende würde er sie gar nicht erkennen — oder doch? Umgekehrt erkannte sie ihn vielleicht auch
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