Nacht des Flamingos
zurück, als Sie sie das letztemal sahen. Schien sie bekümmert oder erregt?« Mrs. Kilroy schüttelte mit aller Bestimmtheit den Kopf.
»Sie war genau wie immer.«
»Und doch machte sie ihrem Leben keine drei Stunden später ein Ende.«
»Möge Gott ihr gnädig sein.« In Mrs. Kilroys Stimme lag echtes Entsetzen. Sie bekreuzigte sich hastig.
»Was können Sie uns sonst noch von ihr erzählen? Wenn ich recht unterrichtet bin, hat sie drei Monate bei Ihnen gewohnt.«
»Das stimmt. Sie stand eines Nachmittags mit zwei Koffern hier vor der Tür. Ich hatte zufällig gerade ein Zimmer frei. Sie erklärte sich bereit, die Miete für drei Monate im voraus zu zahlen, da sie keine Referenzen hatte.«
»Was hielten Sie von dem Mädchen?«
Mrs. Kilroy zuckte die Achseln.
»Sie paßte eigentlich nicht recht hierher. Viel zu damenhaft für diese Gegend. Ich habe mir vorgenommen, nie Fragen zu stellen, weil jeder sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern soll, aber sie hätte bestimmt allerhand erzählen können.«
»Pater Ryan scheint nicht zu glauben, daß sie wirklich Joanna Martin hieß.«
»Das sollte mich nicht wundern.«
»Womit verdiente sie sich ihren Lebensunterhalt?«
»Sie hat mir nie Scherereien gemacht. Was sie getan hat, ging mich nichts an. Nur eines ist mir aufgefallen – sie hatte hier im Zimmer eine Staffelei stehen. Oft hat sie gemalt. Ich fragte sie einmal, ob sie an der Akademie wäre, aber sie erklärte, es wäre nur ein Steckenpferd.«
»Ging sie viel aus – abends, zum Beispiel?«
»Meinetwegen hätte sie nächtelang ausbleiben können. Alle meine Mieter haben ihren eigenen Schlüssel.« Sie zuckte wieder die Achseln. »Meistens bin ich selbst auf der Achse.«
»Hat sie jemals Besuch bekommen?«
»Nicht daß ich wüßte. Sie war ziemlich zurückhaltend. Mir fiel nur hin und wieder auf, daß sie wirklich manchmal sehr elend aussah – richtig krank. Einmal mußte ich ihr die Treppe hinaufhelfen. Ich wollte den Arzt anrufen, aber sie sagte, sie wäre nur ein bißchen unwohl. Und als ich sie später am Nachmittag wieder sah, da machte sie einen ganz frischen Eindruck.«
Wie man eben nach einer Heroininjektion aussieht, dachte Miller und seufzte.
»Sonst noch etwas?«
»Eigentlich nicht.« Mrs. Kilroy zögerte. »Wenn sie überhaupt mit jemandem befreundet war, dann mit dem Mädchen auf Nummer vier – Monica Grey.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich habe die beiden zusammen ausgehen sehen. Meistens am Nachmittag.«
»Ist sie jetzt zu Hause?«
»Sie müßte eigentlich da sein. Soviel ich weiß, arbeitet sie abends in einem Klub.«
Miller wandte sich Brady zu.
»Ich werde mich mal mit der jungen Dame unterhalten. Lassen Sie sich inzwischen von Mrs. Kilroy zeigen, wo der Heizofen ist. Vielleicht läßt sich da was finden.«
Die Tür schloß sich hinter ihnen. Miller stand in der Stille und lauschte. Das Zimmer blieb stumm und leblos – es hatte keine Ausstrahlung. Es war, als hätte sie niemals hier gelebt. Ja, was wußte er denn überhaupt von ihr? Bis jetzt hatte sich ihr Wesen ihm nur in einer Reihe sich scheinbar widersprechender Tatsachen offenbart. Ein Mädchen, das in einem behüteten Elternhaus aufgewachsen war und das aus unerklärlichem Grund in dieser schäbigen Pension Unterschlupf gesucht hatte. Eine fromme Katholikin – und doch hatte sie Selbstmord verübt. Gebildet und intelligent, aber auch rauschgiftsüchtig.
Es paßte alles nicht zusammen. Er schritt den Flur entlang und klopfte an Zimmer Nummer vier. Eine Mädchenstimme forderte ihn auf einzutreten. Er öffnete die Tür und trat über die Schwelle.
Sie stand vor dem Toilettentisch, den Rücken der Tür zugewandt. Sie war im Unterkleid. Als sie ihn durch den Spiegel erblickte, weiteten sich ihre Augen.
»Ich dachte, es wäre Mrs. Kilroy.«
Miller trat wie ein echter Kavalier wieder in den Gang hinaus und schloß die Tür. Einen Moment später wurde ihm wieder geöffnet. Sie war in einen alten Morgenrock geschlüpft und lachte ihn an.
»Sollen wir's noch einmal versuchen?«
Ihre Stimme klang rauh – sehr warm und sehr ansprechend. Sie hatte eine kleine Stupsnase, die ihrem Gesicht einen jungenhaften Charme verlieh.
»Miß Grey?« Miller zeigte seinen Ausweis. »Sergeant Miller von der Kriminalpolizei. Ich hätte mich gern einen Moment mit Ihnen unterhalten.«
Ihr Lächeln trübte sich. Ein Schatten schien ihre Augen zu
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