Nacht des Flamingos
vorbei, wenn sich's machen laßt. Bis dahin müßte ich von London gehört haben.«
Als Miller in den Dienstraum zurückkehrte, wartete ein junger Beamter neben seinem Schreibtisch.
»Ich habe eine Nachricht für Sie in Empfang genommen, Sergeant, während Sie beim Chef waren.«
»Von wem?«
»Jack Brady. Er sagte, er riefe von der katholischen Kirche in Walthamgate an. Und er läßt fragen, ob es Ihnen möglich wäre, sobald wie möglich dorthin zu kommen.«
Miller nickte. »Sonst noch etwas?«
»Ja, er läßt Ihnen ausrichten, daß er das Mädchen aufgespürt habe.«
Das Licht in der kleinen Kirche war gedämpft. Vorn beim Altar flackerten Kerzen.
Die Gestalt der Heiligen Jungfrau in der kleinen Seitenkapelle schien in der Dunkelheit zu schweben.
Nick Miller befand sich hier auf unbekanntem Boden. Er blieb stehen und wartete, während Jack Brady das Knie beugte und sich ehrfürchtig bekreuzigte.
Der Mann, den zu sprechen sie gekommen waren, kniete, im Gebet versunken, vor dem Altar. Nach einer Weile stand er auf und kam ihnen entgegen. Miller sah, daß er sehr alt war. Sein Haar schimmerte silbern im Dämmerschein des Lichts.
Brady stellte die beiden Männer einander vor.
»Pater Ryan, das ist Sergeant Nick Miller.«
Der alte Mann lächelte und faßte Millers Hand mit überraschend festem Griff.
»Jack und ich sind alte Freunde, Sergeant. Fünfzehn Jahre lang hat er die Boxstaffel unseres Sportklubs geleitet. Setzen wir uns doch hinaus auf die Veranda. Um diese Jahreszeit bekommt man die Sonne so selten zu sehen. Und dieses Jahr haben wir einen besonders harten Winter gehabt.«
Brady öffnete die Tür, und Pater Ryan ging ihnen voraus. Er setzte sich auf eine Bank aus poliertem Holz, von der man auf den stillen Friedhof mit den Zypressen hinunterblickte.
»Ich höre, daß Sie uns möglicherweise bei unseren Nachforschungen helfen können, Pater«, sagte Miller.
Der alte Mann nickte.
»Kann ich das Foto noch einmal sehen?«
Miller reichte ihm die Aufnahme. Einen Moment lang herrschte tiefes Schweigen, während Pater Ryan die Fotografie betrachtete. Er seufzte schwer.
»Das arme Kind.«
»Kennen Sie das Mädchen?«
»Sie nannte sich Joanna Martin.«
»Sie nannte sich?«
»Richtig. Ich glaube nämlich nicht, daß das ihr richtiger Name war.«
»Darf ich fragen warum?«
»Pater Ryan lächelte schwach. »Ich habe ebensoviel mit
Menschen zu tun wie Sie, Sergeant. Das gehört zu meinem Beruf. Da entwickelt man eine Art Instinkt.«
Miller nickte. »Ich verstehe, was Sie meinen.«
»Zum erstenmal tauchte sie ungefähr vor drei Monaten in der Kirche auf. Mir fiel sofort auf, daß sie sich von den anderen Gemeindemitgliedern unterschied. Wir leben hier in einer Art Zwielichtzone, Sergeant. Hier gibt es fast nur Mietshäuser, und die Mieter wechseln ständig. Es war auf den ersten Blick zu sehen, daß Joanna in einer anderen Welt aufgewachsen war, in einer Welt der Sicherheit und der Ordnung. Sie war hier ganz und gar nicht in ihrem Element.«
»Wissen Sie, wo sie wohnte?«
»Sie hatte bei Mrs. Kilroy ein Zimmer gemietet. Das Haus ist nicht weit von hier. Ich habe Wachtmeister Brady die Adresse schon gegeben.«
Die Tatsache, daß er Bradys offiziellen Titel gebraucht hatte, verlieh dem Gespräch eine neue Förmlichkeit. Es war, als wollte er sich auf die Frage vorbereiten, die – das wußte er – unweigerlich kommen mußte.
»Ich kann mir vorstellen, daß Sie sich in einer schwierigen Lage befinden, Pater«, sagte Miller verständnisvoll. »Doch dieses Mädchen steckte in Schwierigkeiten. Sie muß ihre Situation für ausweglos gehalten haben, sonst hätte sie nicht den Tod gesucht. Haben Sie eine Ahnung, warum das Mädchen so verzweifelt war?«
Brady räusperte sich vernehmlich und trat von einem Fuß auf den anderen.
Der alte Mann schüttelte den Kopf.
»Über die Bekenntnisse, die ein Mensch in der Beichte ablegt, muß ich Stillschweigen bewahren. Da gibt es für mich keine Ausnahme. Das müßten Sie eigentlich wissen, Sergeant.«
»Natürlich, Pater«, bestätigte Miller nickend. »Ich will nicht
weiter in Sie dringen. Sie haben uns sowieso schon sehr geholfen. Vielen Dank.«
Pater Ryan stand auf und streckte seine Hand aus.
»Wenn ich Ihnen sonst irgendwie behilflich sein kann, bin ich natürlich jederzeit für Sie da.«
Brady machte sich bereits auf den Weg. Miller wollte ihm folgen, zögerte jedoch
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